Die Bürgerschule Gießhübel

Franz Wondrejz (1920 – 1984)

 

Die Vertreibung beraubte uns aller materieller Güter. Das Kostbarste aber blieb uns erhalten: unser geistiger Besitzstand. Unser Wissen und Können konnte uns auch bei den gründlichsten Filzkontrollen nicht abgenommen werden. Dieses wichtigste Gut bildete auch die Grundlage für den Neuaufbau unserer Existenz. Die gute Allgemeinbildung verhalf auch den handwerklich tätigen Menschen zu schnellerem beruflichen Aufstieg und war ein wesentlicher Grund dafür, dass wir materiellen Habenichtse von unserer neuen Umwelt relativ schnell anerkannt und geachtet wurden. Dass dem so war, verdanken wir dem vorzüglichen Schulsystem unserer Heimat, das seine Grundlegung in dem fortschrittlichen österreichischen Reichsvolksschulgesetz des Jahres 1869 erfahren hatte. Die glücklichste Schöpfung dieses Gesetzes war die Bürgerschule, die eine über das Lehrziel der allgemeinen Volksschule hinausgehende Bildung zu vermitteln hatte. Die Bürgerschule Gießhübel wurde in der Zeit ihres Bestehens in hervorragender Weise der Aufgabenstellung gerecht, wie sie in § 1 des Reichsvolksschulgesetztes formuliert war: "Die Volksschule hat die Aufgabe, die Kinder sittlich-religiös zu erziehen, deren Geistestätigkeit zu entwickeln, sie mit den zur weiteren Ausbildung für das Leben erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten auszustatten und die Grundlage zur Heranbildung tüchtiger Menschen und Mitglieder des Gemeinwesens zu schaffen". Die ehemaligen Schüler der Bürgerschule Gießhübel denken in Dankbarkeit an diese Schule und ihre befähigten Lehrer zurück.

Was wissen wir über die Entstehung und Geschichte? Als am 21. Oktober 1861 um 10 Uhr nachts in der Scheune des Bürgers Josef Schrutek ein Brand ausbrach und sich infolge des heftigen Sturmes sprungweise über das Städtchen verbreitete, sank auch das im Jahre 1786 erbaute hölzerne Schulhaus in Schutt und Asche. Die Gemeinde sah sich gezwungen, in Privathäusern Räume für den Schulunterricht anzumieten. Die ständig wachsende Schülerzahl zwang zu weiteren Klassenbildungen und es kostete viel Mühe, weitere Unterkünfte für die Schule zu finden. Dem tatkräftigen Bemühen des damaligen Bürgermeisters Anton Stwrtetschka war es schließlich zu verdanken, dass 1868 der Grundstein für ein neuesSchulhaus gelegt werden konnte, das nach zweijähriger Bauzeit am 21.9.1870 feierlich eingeweiht wurde. Mit Beginn des Schuljahres 1883/84 besuchten die Volksschule 449 Schüler, die in 5 Klassen aufgeteilt waren. Ein Jahr später erfolgte die Teilung der
5. Klasse nach Knaben und Mädchen.

Da unser Städtchen weiter rasch aufblühte und die Schülerzahl ständig anwuchs, reifte der Plan, hier eine dreiklassige Bürgerschule zu errichten. Die Anregung ging vom seinerzeitigen Bezirksschulinspektor Oppelt aus und wurde vom damaligen Oberlehrer Jenischta stark unterstützt. Die Gemeinde legte ein diesbezügliches Gesuch vor und mit Erlass vom 29. 12. 1896 bewilligte der Landesschulrat im Einverständnis mit dem ehemaligen Landesausschuss des Königreichs Böhmen die Errichtung einer Knabenbürgerschule in Gießhübel und deren Vereinigung mit der bestehenden Volksschule. Neben die Freude über diese Entscheidung trat die Sorge, wo die bewilligte Schule untergebracht werden soll. Das vorhandene Schulgebäude genügte nicht, nur ein Neubau konnte die Frage lösen. Geldliche Schwierigkeiten der Gemeinde verzögerten die Ausführung des Vorhabens. Erst als die deutschen Schutzvereine eingriffen, konnte mit dem Schulbau begonnen werden. Am 5. Mai 1905 wurde der Grundstein gelegt. Am 16. September desselben Jahres wurde in einem Raum des Hauses 113/St. der Unterricht der 1. Klasse der Bürgerschule aufgenommen. Nach der Erweiterung am
9. September 1906 zogen die ersten beiden Klassen in das neuerbaute Schulhaus ein. Gießhübel hatte seine Bürgerschule, die einzige Bildungsstätte dieser Art im Oberen Adlergebirge. 1912 wurde der Schule die Koedukation erteilt, d. h., es konnten auch Mädchen aufgenommen werden, jedoch nur bis zu einem Fünftel der Schülerzahl. Anfangs war der Besuch der Bürgerschule seitens der Mädchen auch recht bescheiden, man fürchtete, diese könnten den Anforderungen nicht gewachsen sein.


Die Gießhübler Bürgerschule

Der erste Weltkrieg behinderte die Entwicklung der Volks- und Bürgerschule in mancherlei Hinsicht. Ernsthafte Gefahren für den Bestand der Bürgerschule ergaben sich in den ersten Nachkriegsjahren. Der Geburtenrückgang während des Krieges hatte ein starkes Absinken der Schülerzahl zur Folge. Hinzu kam, dass nach der Errichtung einer tschechischen Minderheitenschule mit Beginn des Schuljahres 1919/20 tschechische Schüler, die bisher die deutsche Schule besucht hatten, auf die tschechische Schule überwechselten. Die tschechische Schulverwaltung in Prag verfügte daraufhin die Auflösung von 2 Volksschulklassen und die Beschlagnahme von Schulräumen in die tschechische Minderheitenschule im Ort. Die gegen die Sperrung und Beschlagnahme eingereichten Berufungen wurden abgewiesen. Völlig unbegründet aber erfolgten 1922 die Auflösung der 4. Klasse und ein Jahr später auch der 3. Volksschulklasse. Einsprüche gegen die Schließung blieben erfolglos. Erst 1927 gab der Landesschulrat dem Drängen auf Wiederherstellung der 3. Klasse nach. Als 1924 die Umwandlung der Knabenbürgerschule in eine gemischte Bürgerschule verfügt und damit auch Mädchen nach dem 5. Volksschuljahr das Aufsteigen in die Bürgerschule zur Pflicht gemacht wurde, war der Weiterbestand der Bürgerschule gesichert.

Der Wert einer höheren Bildungseinrichtung wurde in zunehmendem Maße erkannt und geschätzt. Das zeigte sich darin, dass ein immer größerer Zustrom von Schülern aus dem ganzen nördlichen Teil des Adlergebirges bis Deschnei, Tanndorf, Auerschim und Friedrichswald zu verzeichnen war. Während die Schüler aus den Nachbarorten Pollom und Sattel einen täglichen Fußmarsch bis zu einer Stunde zurückzulegen hatten, waren die Kinder aus den entfernteren Orten bei Gießhübler Familien untergebracht. Auch die Schüler von Obergießhübel hatten einen Schulweg von mehr als 4 km zu bewältigen. Sie fuhren im Winter auf den Skiern zur Schule und verbrachten die Mittagszeit im Schulzimmer. An bedürftige Schüler wurde eine Schulspeisung ausgegeben.

War die Zahl der tschechischen Schüler, die zwecks Erlernung der deutschen Sprache die Bürgerschule besuchten, nach dem Krieg zunächst stark zurückgegangen, stieg sie nun bald wieder an. Diese tschechischen Schüler kamen meist aus Neustadt a.d. Mettau und Nachod in deutsche Familien "auf Tausch", d. h. deutsche Kinder dieser Familien waren umgekehrt bei tschechischen Familien untergebracht, um sich durch den Besuch der 4. Klasse einer tschechischen Bürgerschule in der tschechischen Sprache zu vervollkommnen.

An unserer Bürgerschule wirkten immer best qualifizierte Lehrkräfte und vermittelten ihren Schülern ein Wissen und Können, das ihnen den Weg ins Leben ebnete und sie befähigte, sich auch an verantwortlicher Stelle zu bewähren. Als erster Direktor leitete die Schule von 1905 bis 1920 Eduard Hamatschek, der seinen Ruhestand später in Braunau verbrachte. Seine Nachfolge trat 1923 Direktor Wilhelm Hofmann an. Er war schon von 1906 an als Fachlehrer in Gießhübel tätig und wirkte bis zu seinem Tode am 1. 2. 1943 für die Schule und unseren Heimatort überaus segensreich. Wegen seiner völkischen Einstellung und Betätigung in den deutschen Schutzverbänden wurde er im Sommer 1937 von der tschechischen Behörde seines Amtes enthoben und strafweise nach Wiesengrund bei Pilsen versetzt. Zum Schulleiter wurde der Fachlehrer Rudolf Knoblich berufen. Erst im Oktober 1938 kehrte Wilhelm Hofmann nach Gießhübel zurück und wurde in sein früheres Amt wieder eingesetzt. Nach seinem Tode erhielt der bewährte Fachlehrer Schindler das Direktorenamt übertragen, das er bis Kriegsende inne hatte.

Die Bürgerschule Gießhübel genoss über die engeren Heimatgrenzen hinaus einen guten Ruf, nicht zuletzt durch die guten Aufnahmeprüfungen, die ihre Schüler an höheren Schulen in Prag, Hohenelbe und anderen Städten ablegten und durch ihre Leistungen, die sie dort vollbrachten.

1930 konnte die Bürgerschule ihr 25jähriges Bestehen feiern. Die Festschrift, die aus diesem Anlass herausgegeben wurde, beginnt mit den Worten: "Vor 25 Jahren schufen deutscher Gemeinsinn, deutsche Treue und deutsche Wohltätigkeit ein Werk, das sich bis jetzt ehrenvoll durchgerungen hat: Unsere Bürgerschule." Der damalige Landesschulinspektor stellte in seiner Widmung u. a. fest: "Gern erinnere ich mich der beiden Schulen in Gießhübel im Adlergebirge, als ich im April 1925 das erste Mal den deutschen Schulbezirk Senftenberg besuchte. Denn diese beiden Schulen zählen zu den besten deutschen Volks- und Bürgerschulen in Böhmen überhaupt." Das Schlusswort der Festschrift erhält die Mahnung an die Eltern: "Niemand verkennt mehr, wie vorteilhaft der Besuch einer Bürgerschule ist. Darum schützet Eure Schule gleich einem Kleinod, übergebt ihr vertrauensvoll euer Teuerstes, eure Kinder. Steht jederzeit zu ihr, wie immer sich die Zeit auch wandeln möge, denn wer sein Volk verlassen will, verlässt zuerst – seine Schule!"

Diese Worte nehmen Bezug auf den sich in den 30er Jahren verschärfenden Kampf um die Erhaltung des Deutschtums unserer Heimat. Hart lastete die wirtschaftliche Not auf vielen deutschen Familien. Von tschechischer Seite versuchte man mit materiellen Anreizen deutsche Eltern zu veranlassen, ihre Kinder in die tschechische Schule zu schicken und sie auf diese Weise dem deutschen Volkstum zu entfremden. Großzügig wurden die Kinder an der tschechischen Minderheitsschule beschenkt und vor allem zu Weihnachten reichlich beschert. In unserem hart bedrängten Grenz- und Sprachgrenzort wirkten trotz ihrer Abhängigkeit vom tschechischen Staat die deutschen Lehrer weiterhin im heimat- und volkstreuen Sinne und gestalteten so die Schule in ihrem inneren Wesen zu einem Bollwerk für die Behauptung des Deutschtums.

Auch nach dem Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich blieb die Bürgerschule Gießhübel ihrer Tradition verhaftet, obwohl sie im reichseinheitlichen Sinne "Hauptschule" geworden war.

Der Zusammenbruch 1945 setzte auch unserer Bürgerschule ein Ende, die sich in vier Jahrzehnten ihres Bestehens als hervorragende Bildungsstätte im Oberen Adlergebirge bestens bewährt hatte.
 

Aus: "Trostbärnla" 1984 / Seite 55 ff