Die Schreckenstage 1945 / 46 in Gießhübel

Erinnerungen von Franz Wondrejz

Gemeindebetreuer von 1978 - 1984



Mein Heimatort Gießhübel war von den Kriegsereignissen verschont geblieben. Erst am 10. Mai 1945 – zwei Tage vor der Kapitulation – wurde unser Städtchen von den Russen besetzt. Mit dem Einmarsch der Sowjetsoldaten begannen für die Bevölkerung Schreckenstage. Es erfolgten Einquartierungen. Soldaten drangen auch gewaltsam in Häuser ein und verlangten Speisen und Getränke. Frauen wurden vergewaltigt, Mädchen versteckten sich auf Dachböden und in Kellerräumen, um den Nachstellungen der Rotarmisten zu entgehen; es kam zu Plünderungen. Männer wurden abgeholt und zu Arbeiten für das Militär herangezogen, doch niemand wusste, ob sie jemals wiederkehrten. Man wagte sich nicht auf die Straße.

Am Pfingstsonntag wurde gezielt nach allen Männern gesucht. Tschechen leisteten dabei Hilfsdienste, so u. a. auch der tschechische Schornsteinfeger, der während des Krieges unbehelligt seinen Beruf ausüben durfte und immer mit "Heil Hitläär!" gegrüßt hatte. Jetzt trug er eine Partisanenmütze und eine rot – weiß – blaue Armbinde und führte russische Soldaten in die Häuser, wo deutsche Männer anzutreffen waren. Diese wurden zur russischen Kommandantur ins Hotel Jirku gebracht. Dort sah es wüst aus: Schränke waren aufgebrochen, alles war durcheinander gewühlt, auf dem Flur lagen zerbrochene Einmachgläser mit entleertem Inhalt herum. In der Gaststube war ein Strohlager aufgeschüttet. Ohne verhört worden zu sein, wurden die Gefangenen am nächsten Tag über die Altreichsgrenze nach Hummelstadt (Lewin) in ein Lager gebracht.

Es war ihr Glück, dass sie etwas verspätet dort eintrafen, denn kurz vorher war ein Zug gefangener Zivilisten Richtung Osten in Marsch gesetzt worden. Den tschechischen Sprachkenntnissen und dem Hinweis gegenüber dem russischen Kommandanten, dass sie wohl irrtümlich hierher gebracht worden seien, hatten es die Gefangenen zu verdanken, dass sie wieder freigelassen wurden; denn der Russe war mit den Nationalitätsverhältnissen in unserem Grenzgebiet nicht näher vertraut. Auf Schleichwegen kehrten sie nach Gießhübel zurück.

Wenige Tage nach dem Einmarsch der Russen "besetzten" auch tschechische Freischärler aus dem angrenzenden tschechischen Sprachgebiet unseren Ort. Vor ihrem Einmarsch wurde den Deutschen befohlen, weiße Fahnen zu hissen. Neben der russischen wurde auch eine tschechische Kommandantur eingerichtet. Tschechischer Pöbel aus den Nachbarorten strömte in Scharen ein und gebärdete sich als Sieger über die Deutschen.

Die deutsche Gemeindeverwaltung wurde vom tschechischen Nationalausschuss (narodny vybor) übernommen. Auf dessen Anweisung mussten sich alle männlichen Einwohner auf dem Ringplatz versammeln und wurden zum Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft eingeteilt. Andere wurden unter Bewachung von SNB – Leuten (straz narodni besecnost = Sicherheitsdienst) zum Holzfällen und Holzspalten für Gemeinde und vybor verpflichtet.

Allen Deutschen war unter Androhung von Strafe befohlen worden, weiße Armbinden zu tragen. Alle Wertgegenstände und Rundfunkgeräte mussten beim vybor abgeliefert werden. Nachdem durch die neue tschechische Regierung aller deutsche Besitz zum "Volkseigentum" (narodni majetek) erklärt worden war, glaubten die ortsansässigen Tschechen, sich von ihren deutschen Nachbarn alles aneignen zu können, was ihnen brauchbar erschien.

Eines Tages rollten Panzerfahrzeuge der Swoboda – Armee an und nahmen am Ringplatz Aufstellung, wohl um die Bevölkerung einzuschüchtern. Unser tschechischer Nachbar berichtete mir, tschechisches Militär werde in den nächsten drei Tagen in die Grafschaft Glatz einmarschieren. Dieser Plan hat zweifellos bestanden, doch kamen dann die Polen zuvor.

Bald setzten Hausdurchsuchungen durch tschechisches Militär ein, wobei besonders nach Waffen, aber auch nach Lebensmittelvorräten und Wertgegenständen gesucht wurde. Dabei ließen die Soldaten auch manche Dinge zur privaten Bereicherung mitgehen. Der tschechische Ortskommandant podporucik (Unterleutnant) Smida hatte keine Skrupel, in einem hellgrauen Zivilanzug daher zu stolzieren, den er aus dem Kleiderschrank eines Wehrmachtssoldaten entwendet hatte.

Dieser Offizier war auch für die nun einsetzenden Verhaftungen verantwortlich. Für viele der Verhafteten begann nun eine wahre Passion. Förster Wilhelm Rasel wurde von der tschechischen Soldateska derart misshandelt, dass ihm das Blut aus den Stiefeln lief. Man errichtete am Ringplatz einen Galgen, um ihn zu erhängen. Kurze Zeit später wurde er im Wald erschossen. Das gleiche Schicksal ereilte den Gastwirt Josef Moschnitschka, Besitzer der bekannten Gebirgsbaude "Zur Schnappe". Auch er wurde ohne ersichtlichen Grund hinter seinem Haus durch Gewehrkugeln niedergestreckt.

Am 6. Juni 1945 wurden die Häftlinge zu einem "Leichenzug" aufgestellt. Vorangetragen wurde auf einer Stange ein Hitlerbild mit Trauerflor. Dahinter folgte der katholische Ortspfarrer Anton Rührich, der nach Art eines Messbuches ein bei ihm gefundenes Fotoalbum mit Soldatenbildern vor sich hertragen musste. Dann schloss sich der Zug der übrigen Häftlinge an, deren Kleider mit Hakenkreuzen und SS – Runen bemalt waren. So bewegte sich der Trauerzug in einem 20 km langen Fußmarsch durch die tschechischen Dörfer bis in die Bezirksstadt Neustadt a. d. Mettau.

In der Nacht vom 13. zum 14. Juni wurde Pfarrer Rührich in ein Gasthaus im Peklotal zum Holzspalten gebracht. Am 16. Juni gegen 22 Uhr kamen zwei Soldaten und forderten ihn zum Mitgehen auf. Bald darauf hörten die Wirtsleute einen Schuss; der Pfarrer war erschossen worden. Nachher rühmte sich einer der Soldaten, einen "Schwarzen" erledigt zu haben. Der Tote wurde im Walde eingescharrt. Erst im Februar 1947 wurde sein Leichnam ausgegraben und auf dem Friedhof im nahen Slavonov beigesetzt.

Die anderen Gefangenen wurden in den Gefängnissen in Neustadt a. d. Mettau, Königgrätz und Josefstadt schwer misshandelt. Der Arzt Dr. Helmut Petsch, Gastwirt Rudolf Hasler und Gerber Anton Veit sind seit ihrer Verhaftung verschollen. Josef Stonner aus Obergießhübel starb infolge erlittener Misshandlungen im Gefängnis Josefstadt.

Eines Nachts wurden fast alle noch frei gebliebenen Männer des Ortes von SMB – Leuten aus dem Schlaf aus ihren Wohnungen geholt und ins Gasthaus "Krone" gebracht. Am frühen Morgen hörten sie auf dem Flur das Kommando: "Popravci rota nastoupit!" ("Hinrichtungskommando antreten!"). Damit wurden die Häftlinge verängstigt. Dann öffnete sich die Tür, die Gefangenen wurden herausgeholt uns mussten bereitstehende Pferdefuhrwerke besteigen. Mit diesen wurden sie bei strömendem Regen in die 15 Kilometer entfernte Militärkaserne nach Dobruschka gebracht.

Dort wurden sie Augenzeugen, wie der Koch der Kaserne unter den Augen von tschechischen Offizieren einen älteren Gefangenen aus dem Altreich mit Stockhieben schwer misshandelte, weil dieser aus Schwäche nicht in der Lage war, beim Entladen eines Lieferwagens einen schweren Mehlsack alleine über den Hof zur Küche zu tragen. Von Dobruschka kamen die Häftlinge in ein Lager nach Mezeric, wo sie bis zur Aussiedlung in der Zuckerfabrik arbeiten mussten.

Josef Klar, ein Doppel – Beinamputierter des Ersten Weltkriegs, wurde wegen Arbeitsunfähigkeit wieder freigelassen, musste aber den 15 Kilometer langen Heimweg bei strömendem Regen zu Fuß zurücklegen. Dabei weichten seine Lederprothesen durch und er schleppte sich unter großen Schmerzen mit aufgeriebenen und blutenden Beinstümpfen bis zu den ersten Häusern in Untergießhübel. Von hier aus fuhr ihn eine Frau mit einem Schubkarren nach Hause. Am nächsten Tag bewahrten ihn seine Beinstümpfe vor neuerlicher Verhaftung.

Bereits am 1. Juni 1945 waren die ersten Familien nur mit dem Inhalt eines Rucksackes mit den Worten "Heim ins Reich!" über die Grenze nach Schlesien getrieben worden. Die jungen Frauen und Mädchen wurden zur Zwangsarbeit ins Landesinnere verschleppt. Dort waren sie nachts den Russen als Freiwild ausgeliefert.

Mehrmals ereignete sich der Fall, dass einzelne ehemalige deutsche Soldaten, die aus amerikanischer Gefangenschaft regulär entlassen worden waren und nun von Westböhmen kommend sich auf dem Weg in ihre östlichen Heimatorte befanden, in Gießhübel von bewaffneten Streifen festgenommen und in tschechische Gefangenenlager eingeliefert wurden.

Meist an Sonntagen kamen fremde Tschechen in den Ort, musterten die Straße entlang gehend die Häuser und notierten sich einzelne Hausnummern. Oft schon am nächsten Tag mussten die Bewohner ihr Haus verlassen und wurden mit geringen Habseligkeiten ins tschechische Gebiet umgesiedelt, während ein Tscheche das Anwesen als "spravce" ( = "Verwalter") in Besitz nahm. Die vertriebenen deutschen Familien mussten auf tschechischen Gutshöfen oder in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiten. Unter der Bevölkerung herrschte große Angst, dass die Familien nicht mehr zusammenfinden, wenn der Mann eingesperrt, der Sohn in Gefangenschaft, die Tochter verschleppt war und nun der Rest der Familie mit unbekanntem Ziel abtransportiert wurde.

Zum Jahresbeginn 1946 verbreitete sich das Gerücht, alle Sudetendeutschen würden nach Deutschland ausgesiedelt; niemand aber wollte im Ernst daran glauben, dass so etwas möglich sein sollte. Von den Tschechen wurde das Vorhaben bis zuletzt geheimgehalten.

Eines Morgens im April 1946 klopften in der Frühe um 6 Uhr uniformierte Tschechen (meist handelte es sich um Gendarmen oder Finanzer, die vor 1938 hier ihren Dienst versahen und nun wieder in unserem Ort aufgetaucht waren) an die Türen einzelner Familien, die man im Geheimen ausgewählt hatte, betraten ihre Schlafräume und verlasen den überraschten Bewohnern den Ausweisungsbefehl. Binnen zwei Stunden mussten sie mit nur 50 Kilogramm Gepäck zum Abtransport bereitstehen. Während die notwendigsten Dinge in überhasteter Eile zusammengepackt wurden, kontrollierte ein Wachposten, dass nur Gebrauchsgegenstände und keine Wertsachen mitgenommen werden. Die Gepäckstücke wurden dann auf ein bereitstehendes Pferdefuhrwerk geladen, der Hausschlüssel musste abgegeben werden und dann ging es zum Sammelplatz im "Staadtla".

Hier herrschte große Geschäftigkeit. Ein Zug von mehreren Gepäckwagen wurde zusammengestellt. Neugierige mit Tränen in den Augen standen herum, selbst den Austreibern war die Peinlichkeit ihres Tuns anzumerken. Dann setzte sich der erste Aussiedlungstransport nach Neustadt a. d. Mettau in Bewegung. In einem Massenlager im Neustädter Schloss wurde übernachtet.

Am nächsten Tag erfolgte der Abtransport ins Aussiedlungslager Halbstadt bei Braunau. Nach einer Leibesvisitation wurden alle Gepäckstücke noch einmal gründlich durchsucht. Etwa 14 Tage dauerte der Aufenthalt im Lager. Am Ostersonntag rollte der Aussiedlungstransport mit den ersten Gießhüblern über Pilsen nach Furth im Walde. Wie wir heute im Nachhinein wissen, war es ein Weg in die Freiheit. Nur noch ein oder zwei Transporte mit Gießhüblern gingen in den Westen; die Mehrzahl hatte das bittere Los, in der sowjetisch besetzten Zone zu landen.

Die Schreckenstage des Jahres 1945 / 46 in unserem Heimatort Gießhübel sind nur ein Mosaiksteinchen in dem Gesamtbild der Ereignisse, die sich in jenen Tagen im ganzen Sudetenland abspielten. Allein in vielen Orten unseres Adlergebirges wurden sie an Grausamkeit und Schrecken noch übertroffen. Die Mauer des Schweigens über diese Verbrechen muss endlich durchbrochen werden. 


Erschienen im Heimatkalender "Trostbärnla" 1985 / Seite 33 ff


Ergänzung:

Zu den Opfern dieser Jahre gehören auch:

Josef Czerny, der von 2 tschechischen Soldaten 1946 in seinem Haus, der später abgebrannten Czerny-Mühle, erschlagen wurde;

Franz Seibert, der 1945 nach Neustadt a. d. Mettau verschleppt und nie wieder gesehen wurde;

Johann Hartmann, der 1945 nach Kriegsende bei Prag erschossen wurde;

Franz Herzig, der 1946 im Lager Ribnitz-Damgarten (Mecklenburg-Vorpommern) infolge der Strapazen der Vertreibung verstarb;

Trevisan Cirilos, ein italienischer Fremdarbeiter, der aus nichtigen Gründen vor der Schnappe 1945 von Russen erschossen wurde;

ein unbekannter deutscher Soldat, der während des Rückzuges der deutschen Armee 1945 von seinem eigenen Kommandanten auf der Neuen Straße in Gießhübel niedergestreckt wurde;

Hugo Vogl aus Dlouhe, der von einem deutschen Soldaten an der Gießhübler Sprachgrenze bei einem Scharmützel kurz vor Kriegsende erschossen wurde.

Detaillierte und z. T. beglaubigte Aussagen zu den genannten Ereignissen finden sich im Archiv des Adlergebirges, das im Kulturhaus der Stadt Waldkraiburg untergebracht ist.

T.F.