Episoden aus meinem Leben

Thea Frank

Es war im Herbst 1938.

Die Lage im Sudetengau hatte sich zugespitzt. Eine Bunkerkette und Panzersperren umgaben unser Gebiet. Die deutsche Zivilbevölkerung, vor allem Frauen und Kinder, waren in Transporten unterwegs ins sichere Deutsche Reich. Auch ich war nicht mehr daheim. Ich war über die Grenze zu meiner Großmutter ins nahe gelegene Lewin gebracht worden. Mutter war noch in Gießhübel geblieben. Ich habe solches Heimweh nach ihr gehabt! "Das Mütterlein soll doch schon kommen!" habe ich immerzu gejammert. Ich bin Mutter sogar entgegengegangen über den Kirchberg in Lewin und habe Ausschau nach ihr gehalten.

Ich erinnere mich noch, dass am Wegrand wilde Heckenrosensträucher standen, jetzt bestückt mit leuchtend roten Hagebutten. Ich sammelte sie in mein Schürzchen. Und Mutter wollte immer noch nicht auf der Straße von Gießhübel her zu uns kommen! Da setzte ich mich an den Grabenrand und weinte und flennte vor mich hin. Auf einmal strich eine sanfte Hand über mein Haar - und mein "Mütterlein" stand vor mir. Vor lauter Freude ließ ich das Schürzchen los, die Hagebutten purzelten in den Graben; denn ich brauchte ja beide Ärmchen, um Mutter zu umfassen und festzuhalten.

Wir fuhren dann von Lewin nach Bad Altheide und fanden mit anderen Unterkunft in einem Gasthaus. Dort musste ich in einem fremden Bett schlafen. Das gefiel mir gar nicht. Und wieder fing ich an zu jammern: "Ich will mein Bettchen wiederhaben, ich will mein Bettchen wiederhaben!" Nach unserer Rückkehr, zunächst nach Lewin, tauchte dann auch mein Vater wieder auf.

Ich erinnere mich, dass er mich in einen großen Saal mitnahm, in dem auf langen Tischen rote Fahnen und Transparente lagen – in Vorbereitung auf den Einmarsch der Deutschen in das Sudetenland. Als es dann soweit war, stand ich in unserem Garten, in dem noch  Dahlien blühten und war ganz entsetzt darüber, dass die Leute sie einfach abrissen und den vorbeiziehenden Soldaten zuwarfen.

1939 kam ich in die Schule.

Ich freute mich darauf. Ich glaube, ich hatte die Vorstellung, dass ich gleich am ersten Tag das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen würde – und das wollte ich. An meinen Griffelkasten kann ich mich noch heute erinnern. Aber ich dachte schon weiter, nämlich an das Schreiben mit Tinte. Lange machte ich mir Gedanken darüber, wie ich wohl so ein gläsernes Tintenfass in der Schultasche befördern könnte, dass es nicht auslief oder zerbrach. Als ich meine heimlichen Sorgen darum dann doch einmal meiner Mutter offenbarte, erfuhr ich, dass es Tintenfässer in der Schule gäbe. Aber das konnte nicht wahr sein. Jedenfalls konnte ich mir ein Tintenfass in einer Bank nicht vorstellen. Erst viel später, als mir böse Buben meine langen Zöpfe mit den Maschen drin immer wieder mal hineintunkten, nahm ich sie so richtig wahr.

Bei uns begann das Schuljahr im Herbst. Am 1. September war es endlich soweit. Voll Erwartung machte ich mich auf den Weg. Wir versammelten uns auf dem Schulhof. Dann wurden wir alle zusammengerufen und in einem Halbkreis aufgestellt. Ein Lehrer trat vor und sprach zu uns. Auch eine Fahne wurde auf einen hohen Fahnenmast hochgezogen. Und dann mussten wir wieder nach Hause gehen. Das sollte alles gewesen sein? Noch nicht einmal das Klassenzimmer, auf das ich so gespannt gewesen war, hatten wir betreten! Eine tiefe Enttäuschung breitete sich in mir aus. Und dann erfuhr ich irgendwie, dass Krieg sei, was immer das auch war. Ich jedenfalls hatte den Spaß an der Schule verloren.

Die Advents- und Weihnachtszeit 1945

verbrachten Mutter und ich schon in Lewin bei meiner Großmutter. Wir waren bei den ersten gewesen, die am 1.Juni binnen einer Stunde über die Grenze "heim ins Reich" abgeschoben worden waren. Vater hatte man im Tschechischen eingesperrt, wir wussten nichts von ihm .Meine Mutter lag seit Allerseelen schon schwerkrank zu Bett. Zu dritt teilten wir uns Omas sehr schmales, enges Schlafzimmer und ihre kleine, von Russen arg zugerichtete Küche. In der guten Stube hauste ein polnischer Offizier. Es war kalt. Ich war am Tag durch die Straßen von Lewin gestreift, war ein bisschen Schlitten auf dem Kirchberg gefahren und war müde, hungrig und traurig heimgekommen.

Ich war bei meinem Rundgang auch an einem erleuchteten Schaufenster vorbeigekommen, das zu einer polnischen Bäckerei gehörte. Im Fenster lag ein Pfefferkuchenmann mit großen Augen aus Zuckerguss und vielen weißen Knöpfen auf seinem Bauch. Wie gern hätte ich diesen Pfefferkuchenmann gehabt! Aber Deutsche durften in diesem Geschäft nichts kaufen. Doch mein Verlangen war so groß, dass ich doch in den Laden ging. Eine Türglocke bimmelte. Hinter dem Ladentisch stand eine Frau. Ich brachte meinen Wunsch zum Ausdruck mit Gesten und Worten. Die Frau schüttelte nur den Kopf und wies mich hinaus.

Ein Weihnachtsbaum aber, der war mein größter Wunsch damals. Daheim hatten wir immer einen ganz großen, der vom Boden bis zur Decke reichte – und unsere Räume waren hoch! Jetzt sollte es nur ein kleiner sein, ein klitzekleiner wenigstens. Ich hatte so winzige Bäumchen am Rand des Stadtwaldes gesehen, der sich zwischen der kleinen Kapelle und Kuttel erstreckte. Davon wollte ich eins holen. Es müsste doch nicht schwer sein, so ein Bäumchen auszureißen und versteckt in einem Beutel nach Hause zu bringen! Ich machte mich auf den Weg. Aber, oh weh! Die Bäumchen saßen fest im Boden! Sicher war er ja schon gefroren. Ich bekam jedenfalls keins heraus, auch abbrechen ließ sich der Winzling nicht. Unverrichteter Dinge schlich ich traurig heim.

Da hat sich dann an einem der nächsten Tage wohl jemand erbarmt und hat heimlich doch noch so ein kleines Tannenbäumchen gestiebitzt. Denn am Hl. Abend stand es da, auf dem Nachttisch meiner Mutter, bestückt mit drei Kerzenstummeln und einem Sternchen aus Stanniolpapier. Welch Glanz in unserer Hütte!

1946 verbachten wir

die Vorweihnachts- und Weihnachtszeit schon hier im Westen in einem kleinen, sauerländischen Dorf. Ein Bauer hatte meine Großmutter und mich aufgenommen, nachdem wir in einem anderen Hause abgewiesen worden waren; wer konnte schon eine alte Frau und ein Kind gebrauchen, die zudem von der langen Fahrt in Viehwaggons und Massenlagern verdreckt und verlaust waren!  Mutter war noch in Lewin 10 Tage vor der Aussiedlung gestorben, Vater war in der Ostzone gelandet.

Ich ging in die einklassige Dorfschule. Wir sangen fleißig zweistimmige Weihnachtslieder und übten ein Weihnachtsspiel ein. Ich war der Nikolaus. Aufgeregt stand ich am Abend des letzten Schultages vor den Weihnachtsferien auf der Bühne. Und wen sah ich da im Publikum? Es war unglaublich! Mein Vater und meine Tante Jirku standen hinten an der Tür des Klassenzimmers! Sie waren überraschend schwarz über die Grenze in den Westen gekommen. Wie ich meinen Text zu Ende gebracht und meine Rolle überhaupt gespielt habe, weiß ich nicht mehr. Es war alles wie ein Traum und unfassbar.

Nun waren wir vier, die wir von unseren Familien übriggeblieben waren, zusammen bei unserem Bauern. Trotz der 7 Kinder und einem Knecht im Hause, brachte er uns noch irgendwie unter. Tante schlief bei Oma im Bett in einem kleinen, ungeheizten Kämmerchen, ich bei Vater.

Und dann kam Weihnachten. In der großen Bauerstube wurde ein Baum festlich geschmückt. Es war Hl. Abend. Oma und Tante gingen in ihr Kämmerchen neben der Weihnachtsstube, Vater und ich zogen uns in unser kleines, kaltes Gemach nach oben zurück, wo unser Bett stand.

Niemand holte uns, niemand lud uns ein. Wir hörten die Kinder Weihnachtslieder singen und wir hörten, wie sie sich über ihre Geschenke freuten....Aber wir waren uns ja nah, mein Vater und ich,  und so schlief ich dann ein, geborgen in Vaters Arm.

1947, Vater hatte Arbeit gefunden

und ein Zimmer für uns vier. Zwei große Bauernbetten standen darin, ein Tisch, eine Bank und zwei Stühle - und ein Regal, das Vater gebaut hatte. Auch einen hohen Eisenofen gab es mit einem Ofenrohr, in dem Großmuttel  in leeren Blechbüchsen kochte. Wir hatten im Sommer fleißig Pilze und Beeren und auch Bucheckern gesammelt, so hatten wir Öl zum Braten für ein Stückchen Fleisch vom Nachbarn, Pilze für eine Suppe und eingelegte Beeren für einen Nachtisch. Es war ja wieder einmal Weihnachten. Sogar ein Bäumchen war geschmückt worden – und Gaben lagen darunter, ein kleines Päckchen für jeden.

Ich hatte aus aufgezogener Wolle Socken für Vater gestrickt, ein Deckchen für Tante gehäkelt und Oma bekam ein Taschentuch (noch von daheim) mit einer neuen Spitze. Und ich, ich erhielt das schönste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten: Drei kleine Blöckchen Papier zum Schreiben und Malen. Nie zuvor und niemals später habe ich mich über ein Geschenk so gefreut wie über diese kleinen Blöckchen! Ganz sparsam bin ich mit ihnen umgegangen. Nur ja kein Blättchen von dem kostbaren Papier vergeuden! Und nicht zuviel an einem Tag aufbrauchen! Kostbarkeiten in der damaligen Zeit, wertvoll wie Edelsteine!

Es war im Sommer 1948.

Wir wohnten nun in einem Raum und in einem zusätzlichen, niedrigen Kämmerchen in einem alten Beamtenhaus, das zum Schloss Wittgenstein gehörte, nahe am Wald und an der Lahn gelegen, recht einsam, ½ Stunde Fußweg vom Ort entfernt.

Unsere Tage verbrachten wir nach wie vor mit Beeren- und Pilzesuchen, Bucheckern- und Holzsammeln. Im Herbst kamen dann die Schlehen und Hagebutten dazu. Eine schöne Zeit, trotz Enge und Not! An den Abenden wurde das Gesammelte geputzt und zu allem möglichen verarbeitet. Die Pilze wurde getrocknet oder eingelegt oder gleich zu Suppe, Soße oder Ragout verkocht, ja sogar gebraten wurden sie, wie Schnitzel. Aus den Beeren wurde durch ein Tuch Saft gepresst, oder sie wurden zu Marmelade verarbeitet. Holunderbeersuppe gab es und Himbeerpudding.

Und Hagebuttenmarmelade! Sie war besonders aufwendig zuzubereiten. Musste doch jede Hagebutte aufgeschnitten und das stachelige Innere herausgekratzt werden! Die Finger brannten – und oft ließ der Arbeitseifer ob solcher Pein nach. Noch heute bewundere ich meine Oma, die aus allem abwechslungsreich und schmackhaft kochte.

Oder waren wir vielleicht einfach hungriger und bescheidener?
 
 

Auf dem Weg zur Lewiner Oma

Gern möchte ich noch einmal die alte Straße von Gießhübel über Kuttel nach Lewin laufen! Wie oft bin ich als Kind diesen Weg gegangen oder im Winter mit dem Schlitten oder den Schneeschuhen hinuntergefahren, denn in Lewin - Hummelstadt hieß es ja damals! - wohnte meine Großmutter.


Lewiner Ring

Wir besuchten meine Lewiner Oma oft. Im Sommer kehrten meine Eltern mit mir von diesen Besuchen meist erst spät heim. Die Sterne standen schon am Himmel, und Vater erzählte unterwegs Sagen und Erlebnisse von früher. Besonders unheimlich war das Stück am Lewiner Stadtwald entlang, in dem auch ein kleiner Steinbruch war, in dem manchmal Zigeuner Unterschlupf fanden. Danach kamen die Lichter aus den Kuttler Häusern, und wir hörten das Heulen der Hunde, die den Mond anjaulten.

Einmal wollten wir besonders schnell zu Hause sein, und wir nahmen das kleine Wäldchen zwischen der alten und neuen Straße. Es war stockdunkel. Wir hatten einen Marmeladeneimer bei uns, in dem wir Beeren zur Oma gebracht hatten. Den hielt sich nun Vater vor den Bauch, ich klammerte mich hinten an den Vater, und nach mir kam meine Mutter. Wenn es schepperte, war Vater vom Steigel abgekommen und vor einen Baum gerannt.


Mein Elternhaus, auch Soumar- oder Doktorhaus genannt

Zur Faschingszeit, es lag noch viel Schnee, hatte Mutter Krapfen gebacken. Ein paar davon packte sie mir in einen kleinen Rucksack, damit ich sie auf Skiern nach Lewin zur Oma bringen sollte. Sie schärfte mir ein, ja nicht hinzufallen und die Krapfen ja auch heil nach Lewin zu bringen. Nun war ich alles andere als eine gute Sportlerin oder Skifahrerin. Als das Tempo auf dem Kirchberg schneller wurde, bekam ich es mit der Angst zu tun – und ich setzte mich auf den Podex und bin so den ganzen Kuttler Berg bis zum Hasler hinuntergerutscht. Das Gebäck kam bestens erhalten bei Oma an!


Das Kuttler Tal

Das letzte Mal ging ich diesen Weg am 1.Juni 1945, zusammen mit Mutter und weiteren Gießhübler Leuten. Wir hatten jeder ein paar Habseligkeiten in der Hand - und voran trug jemand das Schild "Heim ins Reich"!