Ein unbeweintes Grab

Brigitte Siepmann

 

Man hatte ihn vom Straßenrand halb in den Graben gezogen. Seine gebrochenen Augen schienen in eine unerreichbare Ferne gerichtet, in die seine Seele sich bereits aufgemacht hatte. Auf seinen fahlen Zügen haftete eine Spur von Unbegreiflichkeit, ebenso wie auf den Gesichtern jener, die ihn fanden.

 

Einer wollte um das Geschehen wissen, und so machte es die Runde: Der Erschossene sei mit einem Flüchtlingstross, unter dem sich auch versprengte Angehörige der deutschen Wehrmacht befanden, zu Pferd durch den Ort geritten. In einer Ausfallstraße sei es dann passiert. Aus Unachtsamkeit, vielleicht auch aus Rücksichtslosigkeit sei das Pferd in ein Leiterwägelchen von Flüchtlingen galoppiert, wobei ein Rad zu Bruch ging. Ein hitziger Disput entbrannte und die Eskalation wurde durch einen anwesenden Offizier gnadenlos mit der Pistole beendet. Die letzten Worte des Sterbenden waren verbürgt. Ich mache es wieder heil, ich mach' es wieder heil, so habe er gefleht.

 

Der Schuss war in den nahen Tälern verhallt, in die der Strom der Flüchtlinge und der Mörder sich längst verloren hatten. Auf einer Karre brachte man den Toten ins „Beinhäusel“ des nahegelegenen kleinen Gemeindefriedhofs bei der Kirche. Da kein Sarg zur Hand war, legte man ihn auf eine Steinplatte. Den Waffenrock hatte man ihm ausgezogen und über einen Stuhl gehängt. Der Pfarrer ward gerufen.

 

Ein achtjähriges Mädchen hatte von dem Geschehen gehört. In seiner Hand hielt es einen Feldblumenstrauß. Neben dem Pfarrer war auch die Mutter des Mädchens zugegen und das Kind sah sie in Papieren blättern, die sie der Uniformjacke entnommen hatte. Sie übergab alles dem Pfarrer mit den Worten: „Sie wissen was zu tun ist. Das Wichtigste ist die Benachrichtigung der Angehörigen, wenn das alles hier vorbei ist.“ Der Pfarrer nickte wortlos. Das Mädchen legt die Blumen zwischen die übereinander ruhenden Hände des Toten. Für einen langen Moment sah es sehr ernst aus. Man ließ es gewähren, um es nicht weiter zu erschrecken, dann führte man es behutsam hinweg. Gegen Abend hoben der Küster und der Nachbar der Pfarre ein Grab an der schmalen Stelle neben der Kirche aus, dort, wo die Mauer den Kirchhof nach Osten abgrenzt.

 

Anderntags hockte das Mädchen bei dem schmuck- und namenlosen Hügel. Es stellte ein Glas mit Blumen darauf. Seine Gedanken waren bei dem Feldpostbrief, der die Mutter früh zur Witwe gemacht und wegen dem es eine Zeitlang eine schwarze Taftschleife in den Haaren getragen hatte. „Wir haben ihn in die blutgetränkte russische Erde gesenkt“ hatte in dem Brief gestanden und neben dem Datum schlicht „im Felde...“. Das versprochene Bild vom Grab war nie gekommen.

 

Der hier unbeweint Begrabene ruhte im Schatten Maria Magdalenas, dem Kirchlein, das dem Mädchen so lieb war. Von nun an würde das Grab in seiner Obhut sein.

 

Der 9. Mai  kam und über Nacht die Russen, und als sie abzogen, bestimmten schwarze Milizen über Gefühle und Schicksale. In den letzten Maitagen verwies man per Dekret und unter Androhung von Erschießen innerhalb von drei Tagen zuerst alle Deutschen aus dem Altreich des Ortes, unter ihnen das Mädchen mit seiner Mutter und jüngeren Schwester. Auf seinem langen Weg nach Westen begegnete ihm der Tod immer wieder. Er hatte viele Gesichter und manches war jünger als es selbst.

 

Anmerkung:

In den späten 90er Jahren sucht das Deutsche Rote Kreuz in einer Sondersendung des WDR-Fernsehens immer noch nach einem Soldaten aus dem Glatzer Bergland, der im Frühjahr 1945 zu Pferde auf der Flucht war und dessen Spur im nahen Gebirge plötzlich abreißt.

 

Im Sommer 2000 steht eine 63jährige Frau nach einer langen Reise an der schmalen Stelle hinter der Kirche „Maria Magdalena“ in Gießhübel, dort, wo vor 55 Jahren ein Hügel an der Mauer war, die nach Osten den Gemeindefriedhof abgrenzt. Aus einer Grasnarbe wächst verloren ein winziges Feldblümchen – ein Hainveilchen.