Missachtung ihres Selbstbestimmungsrechtes
- Die Tragik der Sudetendeutschen


Am Dienstag, dem 4. März 1919, demonstrierte fast die gesamte sudetendeutsche Bevölkerung friedlich für ihr Selbstbestimmungsrecht. Diese Demonstrationen waren von einem eintägigen Generalstreik begleitet. Anlass dazu war das Zusammentreten der Nationalversammlung der Republik Deutsch-Österreich an diesem Tage, zu dem die Sudetendeutschen Abgeordnete entsenden wollten, was ihnen durch Beschluss der Siegermächte des Ersten Weltkrieges verwehrt wurde. Ein weiterer Anlass war die sog. "Notenabstempelung", mit der das Bargeld einen großen Teil seines Wertes verlor.

Die Initiative zu diesen Demonstrationen ging auf die sudetendeutschen Sozialdemokraten, die seinerzeit stärkste Partei, zurück, wurde aber von allen anderen Parteien unterstützt. Diese Großkundgebungen wurden an mehreren Orten gleichzeitig von tschechischem Militär zerschlagen, wobei mehrere Dutzend Tote und weit über hundert Verletzte zu beklagen waren. Insgesamt starben 54 Menschen, darunter übrigens mindestens zwei Juden, nämlich Rosa Heller aus Mies und Alfred Hahn aus Karlsbad. Die jüdische Bevölkerung des Sudetenlandes empfand sich damals ganz überwiegend als ein Teil der deutsch-österreichischen Bevölkerung und teilte den Wunsch der (übrigen) Sudetendeutschen nach Selbstbestimmung.

Leider ging die parteipolitische Geschlossenheit im Sudetenland nach dem 4. März bald wieder verloren. Man spaltete sich wieder, was bereits Ende 1918 einer der Gründe für das Scheitern der militärischen Abwehr gewesen war. Ab Anfang Mai 1919 gab es ernsthafte Bestrebungen, das Sudetenland von außen, also von österreichischem und reichsdeutschem Gebiet aus, durch eine militärische Aktion zu befreien. Insbesondere in Schlesien standen dafür kampfwillige sudetendeutsche Formationen - die vielzitierten Freikorps - bereit. Die Annahme des Versailler Vertrags durch Deutschland Anfang Juni 1919 machte diese Pläne jedoch zunichte.

Gegen ihren ausdrücklichen Willen wurden die Sudetendeutschen nun mit dem Vertrag von St. Germain vom 10.9.1919 einem neuen Staat, eben der Tschechoslowakei, zugeschlagen, den sie nicht wollten, und an dessen Namen, Verfassung und Gründung sie keinen Anteil hatten und der seit seiner Gründung die Rechte seiner nicht-tschechischen bzw. nicht-slowakischen Bürger in vielen Lebensbereichen zwanzig Jahre lang systematisch missachtete.

Es ist festzuhalten, dass die USA - beraten von Harvard-Professor Archibald Coolidge - in St. Germain am längsten und am entschiedensten gegen die Ungerechtigkeit der neuen Friedensregelung eintraten. Anders als Frankreich, England und Italien verweigerten sie die von der Tschechoslowakei am 20.12.1918 geforderte nachträgliche Zustimmung zur Besetzung des Sudetenlandes und plädierten für die Zugehörigkeit zumindest eines Teils des Sudetenlandes zu Österreich bzw. Deutschland entsprechend dem Selbstbestimmungsrecht. Sie haben sich aber letztlich nicht gegen Großbritannien und vor allem Frankreich durchzusetzen vermocht. Der US-Kongress erkannt aber die Ungerechtigkeit der Pariser Vorortverträge und verweigerte ihre Ratifizierung.

Maßgeblichen Anteil an der Entstehung der CSR hatte der Vertraute des späteren Präsidenten Tomas G. Masaryk, Edvard Benesch. Masaryk erklärte später überzeugend, dass es ohne Benesch nicht zur Entstehung der CSR gekommen wäre. Benesch agierte bei den Pariser Friedenskonferenzen mit großem Geschick, aber auch skrupellos, wie seine vor Fälschungen strotzenden Denkschriften ("Memoires") für die Friedenskonferenz zeigen. Die Manipulationen Beneschs in Paris waren so gravierend, dass später ein tschechoslowakisches Gesetz strenge Reglementierungen für Darstellungen der Entstehungsgeschichte der CSR festlegte: Laut dem CSR-Staatsschutzgesetz vom 19.3.1923 konnten solche Darstellungen als "Aufwiegelung" mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden (vgl. v.a. § 14, 1 dieses Gesetzes); das Delikt war zwischen "militärischem Verrat" und "Aufreizung zum Rassenhass" eingeordnet. Die Darstellung, die Sie soeben lesen, hätte den Verfasser in der CSR der Zwischenkriegszeit geradewegs ins Gefängnis gebracht.

Die Bevölkerung der Tschechoslowakei setzte sich 1921 zusammen aus 6,6 Mio. Tschechen, 3,2 Mio. Deutschen, 2,0 Mio. Slowaken, 0,7 Mio. Ungarn, 0,5 Mio. Ruthenen (Ukrainern), 0,3 Mio. Juden (davon 180.000 sog. "Nationaljuden" - die CSR hatte als erstes Land der Welt das Judentum nicht nur als Konfession, sondern auch als Nationalität anerkannt), 0,1 Mio. Polen, außerdem Sinti und Roma, Kroaten und weitere Gruppen.
 
 
 

Entnationalisierungspolitik gegen die Sudetendeutschen

Obwohl die Gründung der CSR angesichts der beschriebenen Ereignisse in scharfem Gegensatz zu den Sudetendeutschen erfolgte, unterstützten sie bei den Wahlen der zwanziger und frühen dreißiger Jahren mit großer Mehrheit die staatsbejahenden (sog. "aktivistischen") Parteien. Diese waren zeitweilig sogar an der Regierung beteiligt und stellten einzelne Minister, konnten aber dennoch nicht eine systematische, gegen die Sudetendeutschen gerichtete Assimilierungs- und Entnationalisierungspolitik verhindern. Eine Schlüsselrolle bei dieser tschechischen Verweigerungspolitik gegen alle deutschen Ausgleichversuche spielte wiederum Edvard Benesch (1918-1935 Außenminister, 1935-1938 Staatspräsident), der dann später, ab etwa 1940, vom Exil aus die Vertreibung der Sudetendeutschen diplomatisch und organisatorisch vorbereitete.

Entgegen dem Versprechen Beneschs von 1919, aus der Tschechoslowakei eine Art zweite Schweiz zu machen, begann die tschechoslowakische Staatsführung alsbald eine offen anti-sudetendeutsche Politik:

(1) Systematische Zurücksetzung der deutschen Sprache und Kultur durch die Beschränkung des deutschen Schulwesens und Tschechisch als bevorzugter Amtssprache,

(2) Verdrängung der Deutschen aus dem öffentlichen Dienst und aus den staatlichen bzw. von Staatsaufträgen abhängigen Betrieben,

(3) Benachteiligung der deutschen Wirtschaft in vielen Bereichen,

(4) Beschneidung der deutschen Selbstverwaltung in Gemeinden und Bezirken.

Eine Folge dieser Politik war, dass Mitte der dreißiger Jahre die Arbeitslosigkeit im Sudetenland etwa fünfmal höher war als in den tschechischen Landesteilen.

Praktisch die gesamte Wirtschafts- und Kulturpolitik stand im Dienste der Idee, den Staat zu tschechisieren und aus dem fiktiven einen tatsächlichen Nationalstaat zu machen. Insbesondere die Umsetzung der Bodenreform Anfang der 20er Jahre und die Verdrängung der Deutschen durch Tschechen im Staatsdienst liefen im Ergebnis auf eine tschechische Siedlungspolitik im Sudetenland hinaus.

Bald nach 1919 erhielten alle Orte im Sudetenland tschechische Namen. Die meisten hatten zwar bereits seit Jahrhunderten auch einen tschechischen Namen (ebenso wie sehr viele Orte Innerböhmens auch einen deutschen Namen hatten und haben), nun wurde noch dem letzten Dorf ein neu erfundener tschechischer Namen verpasst. Dieser stand nun auf allen Ortsschildern und Wegweisern oben, und zwar selbst dort, wo keine oder fast keine Tschechen lebten. Paradoxerweise nahm die CSR damit die spätere Praxis des Protektorats vorweg, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Dort standen nun die deutschen Namen oben, selbst in rein tschechischen Gebieten. Demgegenüber gab es in der k.u.k.-Monarchie die Praxis der Beschilderung in der ortsüblichen Sprache: Deutschsprachige Orte wurden deutsch und tschechischsprachige tschechisch beschildert. Im unmittelbaren Sprachgrenzbereich und in zweisprachigen Städten wie Prag und Brünn war die Beschilderung zweisprachig. Dies entsprach und entspricht den Verhältnissen in der Schweiz. Ab 1918 wurde nun genau dieser Zustand beseitigt, dabei hatte Benesch in Paris versprochen, Schweizer Verhältnisse einzuführen.

Auch kam es zu einer starken Militarisierung des Sudetenlandes. So wurde entlang der Grenze zu Deutschland und Österreich in enger Zusammenarbeit mit Frankreich ein gewaltiges Festungssystem gebaut (die sog. "tschechische Magienot-Linie"), dessen Errichtung riesige - auch von sudetendeutschen Steuerzahlern aufgebrachte - Beträge verschlang. Jedoch waren sudetendeutsche Baufirmen von der Auftragsvergabe weitgehend ausgeschlossen, da sie als "staatlich unzuverlässig" galten.

Durch diese ganze Politik stieg etwa in der Stadt Komotau der tschechische Bevölkerungsanteil, der dort vor dem Ersten Weltkrieg bei unter 3 % lag, schon bis zur Volkszählung von 1930 auf über 13 % und bis zum Münchner Abkommen von 1938 auf schätzungsweise 20%. Unter den Staatsbediensteten von Komotau waren 1930 bereits über 40 % Tschechen. Ab 1919 stieg der tschechische Bevölkerungsanteil im Sudetenland jährlich um knapp einen Prozentpunkt. Bei einer unveränderten Fortsetzung dieser Politik wären die Sudetendeutschen auch ohne Münchner Abkommen, Krieg und Vertreibung in wenigen Jahrzehnten - nämlich im Laufe der 70er Jahre - zur Minderheit im eigenen Land geworden.

Tatsächlich hatte die tschechoslowakische Politik dieser Zeit gegenüber den Sudetendeutschen viele Parallelen zur heutigen Politik der VR China gegenüber Tibet, mit dem zentralen Unterschied freilich, dass die CSR unbestreitbar eine Demokratie war. Während die anti-tibetische Politik Chinas von einem diktatorischen Regime verantwortet wird, das jede Kritik unterdrückt, hatten die Sudetendeutschen den "Vorteil", dass sie zwar gegen die gegen sie gerichtete tschechische Dominanzpolitik ziemlich frei protestieren konnten (auch hier gab es Einschränkungen), nur wurden sie eben von einer formal demokratischen tschechischen bzw. tschechoslowakischen Mehrheit im Parlament zwanzig Jahre lang wieder und wieder überstimmt.

Diese Feststellung ist in zweifacher Hinsicht wichtig: Zum einen erklärt sie die zunehmende Kritik und auch Ablehnung der parlamentarischen Demokratie (nicht des freiheitlichen Rechtsstaats) bei vielen Sudetendeutschen in den 30er Jahren. Zum anderen stellt sich hier natürlich die Frage nach der Verantwortung der tschechischen demokratischen Parteien, ja letztlich der tschechischen Wähler für eine überaus nationalistische Politik, die zwanzig Jahre lang einen bedeutenden Teil des eigenen Bevölkerung (23% Deutsche und ca. 5% Ungarn) systematisch benachteiligte, Man muss diese Frage auf die tschechischen Parteien und Wähler beschränken, da sich am Ende sogar die Slowaken von dieser Politik abwandten und angesichts des Prager Zentralismus selbst Autonomie verlangten.

Diese Politik zeigt im Übrigen exemplarisch, wie bei nahezu voller Wahrung der Gleichberechtigung des einzelnen Bürgers dennoch große Ungerechtigkeiten durch die Ungleichbehandlung ganzer Volksgruppen entstehen können.

Diese Politik der CSR verstieß aber nicht nur gegen Moral und politische Vernunft, sondern auch gegen von der CSR eingegangene internationale Verpflichtungen, namentlich gegen das Minderheitenschutzabkommen von 1922. Die Sudetendeutschen protestierten dagegen mit nicht weniger als 24 Eingaben und Beschwerden beim Völkerbund in Genf, allerdings ohne jedes Ergebnis. Grund dafür war nicht nur die Schwäche des Völkerbundes als Institution, sondern auch der persönliche Einfluss, den Edvard Benesch als Außenminister der CSR und enger Verbündeter Frankreichs dort hatte.

Diese Politik führte allmählich zu einer tiefen Entfremdung zwischen den Sudetendeutschen und dem tschechoslowakischen Staat. Insbesondere führte sie dazu, dass die staatsbejahenden sudetendeutschen Parteien (Sozialdemokraten, Christlich-Soziale und Bund der Landwirte) ihren Wählern gegenüber vollständig bloßgestellt wurden. Bei den Parlamentswahlen von 1935 kam es schließlich zum Erdrutschsieg der neugegründeten Sudetendeutschen Partei (SdP) unter Führung von Konrad Henlein. Einer der Gründe für dieses Wahlergebnis war das wenig glückliche Agieren der sudetendeutschen Sozialdemokratie unter ihrem damaligen Vorsitzenden Czech, der die nationale Herausforderung der Deutschen entweder nicht voll erkannte oder nicht politisch thematisieren wollte. Dies im klaren Unterschied zu seinem Vorgänger Josef Seliger und zu seinem Nachfolger Wenzel Jaksch. Auch diese lehnten jeden anti-tschechischen Nationalismus ab (von dem die SdP nicht frei war), aber sie hatten keine Illusionen darüber, dass es für die Deutschen in der CSR - um es vorsichtig zu sagen - nicht nur sozialpolitische Probleme gab.

Das zentrale Ziel der SdP wiederum war die Durchsetzung der vollen staatsrechtlichen und politischen Gleichstellung der Sudetendeutschen mit den Tschechen und Slowaken in Form einer territorialen Autonomie. Zumindest bis zum November 1937 wurde die territoriale Integrität der CSR von der SdP nicht in Frage gestellt, wobei zu betonen ist, dass das Streben nach friedlichen Grenzänderungen damals völkerrechtlich ebenso zulässig war wie 1919 und wie heute.
 
 
 

Das Jahr 1938

Der Sudetendeutsch-tschechische Gegensatz hat sich schließlich im Laufe des Jahres 1938 infolge des äußeren Drucks Adolf Hitlers (zu dessen Machtergreifung die Sudetendeutschen nichts beitragen konnten) bis zur sogenannten Sudetenkrise im September weiter zugespitzt. Zu diesem Zeitpunkt forderten England und Frankreich von der Tschechoslowakei die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich, nachdem Hitler andernfalls mit Krieg gedroht hatte. Die Westmächte fühlten sich zum damaligen Zeitpunkt aber für einen Krieg gegen Hitler noch nicht ausreichend gerüstet. Sie sahen sich auch psychologisch kaum imstande, in einen Krieg "gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu ziehen, nachdem der erste Weltkrieg ausdrücklich für dieses Recht geführt worden war und damals jeder wusste, dass dieses Recht den Sudetendeutschen 1918/19 vorenthalten worden war. Vielleicht hofften sie auch, mit der Erfüllung der angeblich letzten Forderung Hitlers einen großen Krieg ganz verhindern zu können.

Im Grunde genommen standen die Westmächte vor demselben Dilemma wie bei der Rückgliederung des Saarlandes (1935), bei der Besetzung des Rheinlandes (1936) und beim Anschluss Österreichs (März 1938): Sie mussten entweder das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder aber den Grundsatz, dass man einer aggressiven Diktatur möglichst frühzeitig entgegentreten muss, missachten. Und sie wussten, dass dieses Dilemma zu einem guten Teil selbstverschuldet war, weil die Machtergreifung der Nazis ohne die Ungerechtigkeiten der Pariser Vorortverträge - sprich eben die vielfache Missachtung des Selbstbestimmungsrechts - kaum denkbar gewesen wäre. Übrigens haben die meisten Menschen im Saarland, im Rheinland und in Österreich den einmarschierenden deutschen Truppen nicht weniger zugejubelt als die meisten Sudetendeutschen im Oktober 1938. Niemand kam aber auf die absurde Idee, ihnen deswegen einen Kollektivschuldvorwurf zu machen oder sie gar komplett zu enteignen und zu vertreiben. Dieses blieb den Sudetendeutschen vorbehalten.

Die Abtretung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich war ab etwa Mitte September 1938 praktisch beschlossene Sache, nachdem Frankreich der CSR deutlich gemacht hatte, deswegen nicht in einen Krieg ziehen zu wollen. Inhaltlich entsprach die Abtretung dem Vorschlag des damaligen Vermittlers im Nationalitätenstreit, des britischen Lords Runciman nach seiner Mission im Spätsommer 1938. Lord Runcimans Abschlußbericht bleibt in seiner nüchternen und objektiven Schilderung der Verhältnisse im Sudetenland seit 1918 ein zeitlos gültiges Dokument, das aber heute in der CR weitgehend ignoriert wird.

Das von England und Frankreich vorgebrachte Verlangen nach Abtretung des Sudetenlandes - verbunden mit dem Hinweis, die CSR in einem eventuellen Krieg mit Deutschland um das Sudetenland nicht zu unterstützen - wurde von Prag am 21. September 1938 angenommen. Der CSR ging es am Ende vor allem noch darum, eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit des Sudetenlandes zu verhindern. Man war sich allgemein darüber im Klaren, dass eine solche Abstimmung eine riesige Mehrheit für Deutschland ergeben würde. Erst im April hatten 99% der Österreicher in einer weitgehend freien Abstimmung nachträglich den "Anschluss" gutgeheißen. Die CSR wollte eine solche Abstimmungsniederlage vermeiden und vielleicht auch eine Möglichkeit bekommen, langfristig die Rechtmäßigkeit der Abtretung zu bestreiten. Diesem Wunsch der CSR entsprachen die Westmächte: Die Abtretung erfolgte ohne Volksabstimmung und ohne eine tschechoslowakische Unterschrift.
 
 
 

Das Münchner Abkommen

Das darauf folgende sogenannte Münchner Abkommen vom 29. September 1938 regelte dann nur mehr die Durchführung der Übergabe der sudetendeutschen Gebiete an Deutschland. Im Text dieses Abkommens ist nicht von der "Abtretung", sondern von der "Räumung" des Sudetenlandes die Rede. "Räumung" ist eigentlich ein militärischer Begriff. Man kann annehmen, dass mit dieser Wortwahl bewusst auf die diplomatischen Noten vom Dezember 1918 und Januar 1919 bezug genommen wurden. Darin hatten Frankreich, Großbritannien und Italien, also die Signatarmächte des Münchner Abkommens neben Deutschland, die militärische Besetzung des Sudetenlandes gebilligt.

Dieses Abkommen wurde von der internationalen Presse überwiegend positiv bewertet, als ein notwendiges Zugeständnis zur Bewahrung des Friedens in Europa. Das britische Unterhaus war am Tage vor der Abreise Chamberlains nach München gar in minutenlangen Jubel ausgebrochen, nachdem der Premierminister seinen Flug nach München bekannt gegeben hatte. Zu seiner Überraschung wurde sogar der französische Ministerpräsident Daladier nach seiner Rückkehr in Paris gefeiert - er hatte Proteste erwartet.

Es erscheint klar, dass unter diesen Umständen das Abkommen auch in Deutschland, Österreich und im Sudetenland selbst von einer Mehrheit der Bevölkerung gefeiert wurde. Außer der Freude, dass ein deutschsprachiges Gebiet zu Deutschland kam, trat die Erleichterung, dass der allseits befürchtete Kriegsausbruch noch einmal abgewendet werden konnte. Eine - vor allem sozialdemokratische - Minderheit unter den Sudetendeutschen hat übrigens bis zuletzt gegen die Angliederung an das damals nationalsozialistische Deutschland gekämpft. Erst viel später wurde bekannt, dass es Hitler im September 1938 gar nicht um die "Befreiung" der Sudetendeutschen gegangen war, sondern dass er bereits zu diesem Zeitpunkt den Kriegsausbruch anstrebte. Im geschlossenen Kreis bedauerte er das Abkommen deswegen, für das er sich öffentlich feiern ließ.

Auch wurde erst später öffentlich bekannt, dass die Wehrmacht zu diesem Zeitpunkt unmittelbar davor stand, gegen Hitler zu putschen. Sie wollte unter allen Umständen den Kriegsausbruch verhindern. Großbritannien freilich wusste von diesen Plänen und zögerte dennoch nicht, das Abkommen zu unterzeichnen. Der diplomatische Erfolg Hitlers zerschlug diese Pläne des Widerstands, nicht zuletzt deswegen war das Münchner Abkommen also rückblickend verhängnisvoll. Andererseits bleibt es eine Tatsache, dass dieses Abkommen seinem Inhalt nach völkerrechtskonform war und rechtswirksam zustande gekommen ist. Die Unhaltbarkeit der Behauptung, das Münchner Abkommen sei "null und nichtig" bzw. "ungültig von Anfang an (ex tunc)" belegen auch die Urteile des Nürnberger Internationalen Gerichtshofes von 1946. Darin wird die Unrechtmäßigkeit der Protektoratserrichtung vom 15.3.1939 ausdrücklich damit begründet, dass diese gegen das Münchner Abkommen verstoßen habe. Dies setzt voraus, dass das Münchner Abkommen zumindest bis zum 15.3.1939 gültig war. Unseres Wissens wurde dieses Argument von der tschechischen Historiographie bisher nicht beachtet. Es ist auch nicht ersichtlich, wie ihm zu widersprechen wäre.

All das gehört zur Vielschichtigkeit des Münchner Abkommens und seiner Vorgeschichte, die aber von der tschechischen Publizistik und Geschichtsschreibung bis heute kaum anerkannt wird. Dort wird dieses Abkommen meistens undifferenziert als ein "Akt des Verrats" dargestellt. Die Ansichten in dieser Frage sind in der heutigen CR kaum anders als zur kommunistischen Zeit. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft bedauert, dass diese Simplifizierung in den letzten Jahren sogar außerhalb der CR an Boden gewonnen zu haben scheint; sie distanziert sich ihrerseits von der ebenso unhaltbaren Bewertung des Abkommens als einer "Befreiung der Sudetendeutschen".

Zwar wurde unbestreitbar das Abkommen 1938 von einer Mehrheit der Sudetendeutschen zunächst als Befreiung empfunden. Die Ernüchterung kam aber spätestens am 1. September 1939 und in vielen Fällen schon früher - etwa dadurch, dass die Bargeldbestände und Sparguthaben der Sudetendeutschen nach dem Münchner Abkommen mit dem sehr unvorteilhaften Wechselkurs 1 Krone = 12 Pfennig umgestellt wurden. Wie schon im März 1919 verloren die Sudetendeutschen also wieder einen großen Teil ihres Geldvermögens, damals an einen fremdnationalen Staat, diesmal für die Aufrüstung. Ein weiteres Ärgernis für die Sudetendeutschen war, dass Berlin ihnen ziemlich viele NS-Funktionäre vor die Nase setzte und dass das Vereinsleben rigoros gleichschaltet wurde.

Nicht einmal die SdP-Mitglieder hatten ihre uneingeschränkte Freude: Während die österreichischen Nazis unbesehen in die NSDAP übernommen wurden, gab es bei den SdP-Mitgliedern eine Einzelfallprüfung. In Berlin wusste man eben, dass in dieser 85%-Sammelpartei auch sehr viele Christlich-Soziale, Liberale und andere Nicht-Nazis waren und zog die Konsequenzen. Dies ging so weit, dass eine ganze Strömung innerhalb der SdP, der sog. Kameradschaftsbund, der bis zum Sommer 1938 gegen den Anschluss war, komplett kaltgestellt und seine führenden Vertreter sogar inhaftiert wurden. Walter Brand, der persönliche Referent Konrad Henleins, verbrachte deswegen die Jahre 1939-45 im KZ Buchenwald.

Wie unangemessen die pauschale Verdammung des Münchner Abkommen ist, ergibt sich wohl nicht zuletzt aus der Tatsache, dass Hitler noch wenige Tage vor seinem Selbstmord darüber klagte, dass das Münchner Abkommen ihm ein Losschlagen bereits im Jahre 1938 unmöglich gemacht hätte und er deswegen den Krieg verloren hätte - ein bemerkenswertes Entlastungsargument für den vielgeschmähten Chamberlain...
 
 
 

Folgen des Münchner Abkommens

Eine Folge des Abkommens war, dass ein großer Teil der seit 1919 im Sudetenland angesiedelten Tschechen dieses in kurzer Zeit verlassen musste. Einschließlich der Soldaten verließen bis zu 400.000 Tschechen das Grenzgebiet. Ebenso mussten einige Sudetendeutsche in umgekehrter Richtung das innerböhmische bzw. innermährische Gebiet verlassen. Grundlage dieses doppelten Rückwanderungsprozesses - der unbestreitbar zunächst Formen einer Flucht hatte - war der Vertrag über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen vom November 1938. Die Umsetzung des Münchner Abkommens wurde von einer internationalen Kommission unter britischem Vorsitz vor Ort überwacht und verlief auf beiden Seiten geordnet und fast ausnahmslos ohne Gewaltanwendung. Unseres Wissens kam es in weniger als zehn Fällen zur Gewaltanwendung von Sudetendeutschen gegen Tschechen.

Der Exodus eines großen Teils der seit 1919 zugewanderten Tschechen - überwiegend Staatsbedienstete und Militärs mit ihren Familien - kann auch bei Anlegen strengster Maßstäbe nicht als Vertreibung bezeichnet werden: Es gab dabei keine Enteignungen und die seit jeher im Sudetenland lebenden Tschechen waren davon nicht betroffen. Tatsächlich war die Zahl der Tschechen im Sudetenland bei der Volkszählung im Mai 1939 noch deutlich höher (nämlich offiziell 319.000, tatsächlich aber wohl eher 400.000, weil sich viele zweisprachige Tschechen als Deutsche bekannten) als 1918 (265.000). Es ist also sogar ein Teil der Siedler der Zwischenkriegszeit geblieben.

Ein schweres Unrecht begann allerdings sofort nach dem Abkommen: Die meisten der ursprünglich ca. 50.000 Juden im Sudetenland flohen überstürzt. Obwohl einige von ihnen zunächst blieben und dann Opfer der schlimmsten Verfolgung wurden, kann man diese Flucht der Juden nur als Vertreibung qualifizieren, da diese Menschen - anders als die tschechischen Zuwanderer - im Sudetenland beheimatet waren und außerdem - wiederum im Gegensatz zu den Tschechen - ihr Eigentum verloren.

Nur wenige Tage nach dem Münchner Abkommen trat Präsident Edvard Benesch zurück. Die tschechische Öffentlichkeit machte Benesch damals maßgeblich für das Abkommen verantwortlich und warf ihm sowohl seine Politik gegenüber den Sudetendeutschen als auch zu großes Vertrauen auf die Westmächte vor. Nicht zuletzt verübelte ihm die tschechische Öffentlichkeit seine fehlende Bereitschaft, trotz weitgehender Kriegsvorbereitungen (Mobilmachung am 21.9.1938) für die territoriale Integrität der Tschechoslowakei zu kämpfen. Aus sudetendeutscher Sicht sind diese Vorwürfe durchaus respektabel. Benesch blieb in den folgenden Monaten in der Tschechoslowakei der "bestgehasste Mann" und gewann erst nach Kriegsbeginn allmählich wieder an Rückhalt in die tschechische Bevölkerung. Auch diese gut belegte Tatsache ist heute in der CR weitgehend tabuisiert, obwohl sie ein Ansatz zu einer Sudetendeutsch-tschechischen Verständigung über die Person und Politik von Edvard Benesch sein könnte. Gegen die historischen Tatsachen wird aber - bis in Urteile des tschechischen Verfassungsgerichts hinein (Urteil im Fall Dreithaler vom 8.3.1995) - behauptet, der Rücktritt Beneschs sei von der "tschechoslowakischen" Bevölkerung als illegitim angesehen worden.

Eine weitere Folge des Münchner Abkommens war, dass Anfang November die ungarischen und polnischen Gebiete der CSR an Ungarn und Polen angegliedert wurden und dass die Slowaken nun sehr schnell die nationale Autonomie erhielten (November 1938), die ihnen in den Jahren zuvor immer vorenthalten worden war. Dies bedeutete zugleich das Ende der Fiktion von der "tschechoslowakischen" Nation.
 
 
 

Das Unrecht der Protektoratserrichtung

Bereits Anfang März 1939 wurde der Slowakei und der Karpato-Ukraine ihre erst wenige Monate alte Autonomie durch einseitige Prager Entscheidung wieder aberkannt. Am 14. März 1939 riefen daraufhin - nachdrücklich ermutigt aus Berlin - die Slowaken einen eigenen Staat aus, ungarische Truppen rückten in die Karpato-Ukraine ein und deutsche Truppen besetzten die Stadt Mährisch-Ostrau, angeblich um einem polnischen Handstreich zuvorzukommen.

Hitler begann am 15. März 1939 mit der Besetzung des Restgebietes von Böhmen und Mähren und erklärte es zum "Reichsprotektorat", nachdem er den tschechoslowakischen Präsidenten Hacha (seit 5.10.1938 Nachfolger Beneschs) in der Nacht vom 14. auf den 15. März zur Unterwerfung gezwungen hatte. Dieser Gewaltakt war ein eklatanter Verstoß sowohl gegen das Selbstbestimmungsrecht des tschechischen Volkes als auch gegen das Münchner Abkommen.

Schon der Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich 1938 bedeutete für viele deutsche Nazigegner, vor allem für die Sozialdemokraten, den Beginn einer Leidenszeit. Dasselbe galt nach 1939 für den - zahlenmäßig freilich zunächst geringen - tschechischen Widerstand und für die insgesamt etwa 120.000 Juden in den böhmischen Ländern.
 
 
 

Opfer unter Tschechen, Juden, Zigeunern und Sudetendeutschen bis Kriegsende


1. Tschechische Opfer

Die Zahl der tschechischen Opfer der Protektoratszeit ist sehr schlecht erforscht. Hier soll der Versuch einer Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse gemacht werden.

Gemäß Bulletin des Tschechoslowakischen Statistischen Zentralamts vom Dezember 1946 fielen dem Besatzungsterror zwischen 36.700 und 55.000 Tschechen zum Opfer. Laut dieser Quelle gibt es 36.700 namentlich bekannte Fälle, die Zahl 55.000 hingegen errechne sich durch einen Unsicherheitszuschlag von 50%. Aufgrund des Zeitpunkts und der Quelle der Veröffentlichung kann man davon ausgehen, dass diese Zahlen die absolute Obergrenze der tatsächlichen Verluste markieren, obgleich später noch höhere Zahlen publiziert wurden, für die aber nie klare Belege, ja nicht einmal angemessene Plausibilität gegeben wurde. Auch eine Liste der "namentlich bekannten" 36.700 Fälle wurden unseres Wissens nie publiziert. Wir halten diese Zahl für unglaubwürdig, weil keine entsprechenden Ereignisse belegt sind.

In den Wochen und Monaten nach dem Attentat auf Heydrich (27.5.1942), während der sogenannten "Heydrichiade", wurden zwischen 1.700 und 1.800 Tschechen standrechtlich erschossen, einschließlich der mindestens 254 Toten von Lidice (199 Erschossene und weitere Todesfälle unter den in den KZ inhaftieren Frauen des Ortes). Diese Erschießungen erfolgten oft aus geringstem Anlass (Verstoß gegen Meldeauflagen, "Gutheißung des Attentats", Hören von Feindsendern, unerlaubter Waffenbesitz), aber doch nicht völlig wahllos. Da sich Karl Hermann Frank im März 1944 dessen rühmte, dass "auch heute noch monatlich rund 100 Todesurteile" vollstreckt würden, kann die Zahl der hingerichteten, in Polizei- oder Gestapo-Verhören oder in Haft zu Tode gekommenen Tschechen über 5.000 gelegen haben, wobei aber nicht wenige der Opfer exzessiv hart bestrafte Kriminelle und nicht Widerstandskämpfer waren.

Es ist auch zu berücksichtigen, dass infolge der Autonomie des Protektorats sowohl Gerichte als auch Gendarmerie fast ausschließlich von Tschechen besetzt waren. Deren Urteile und Taten können also nicht nur der Protektoratsregierung bzw. deren (teilweise) deutscher Spitze zugeschrieben werden. Dazu folgende Zahlen: Noch im Herbst 1944 standen 340.000 tschechischen Beamten im Protektorat nur 9.000 Deutsche gegenüber. Dies ist umso bemerkenswerter, als im Gebiet des Protektorat etwas über 250.000 Deutsche beheimatet waren, vor allem in Iglau, Brünn und Prag. Da ein Teil der 9.000 deutschen Beamten aus dem Reich kamen, war der sudetendeutsche Anteil noch geringer.

Weiterhin fielen nicht wenige - vermutlich einige Hundert, nach tschechischen Angaben mehrere Tausend - Tschechen, die als Zwangsarbeiter im Reich eingesetzt waren, den Luftangriffen auf deutsche Städte zum Opfer. Der Begriff "Zwangsarbeiter" wird hier mit Vorbehalt verwendet, da nicht unbedingt derselbe Begriff auf diejenigen angewendet werden sollte, die in Arbeitslagern saßen und auf denjenigen, die als zivile Arbeitsverpflichtete im Reich eingesetzt waren. Es trifft zu, dass während des Krieges eine allgemeine Arbeitspflicht für die tschechische Bevölkerung bestand. Allerdings waren die Tschechen den Deutschen in sozialer Hinsicht weitestgehend gleichgestellt, sie bekamen normalerweise dieselben Löhne, die Lebensmittelversorgung im Protektorat war sogar oft besser als im Reich und es gab dort nur eine minimale Zahl von Luftangriffen auf die Zentren der Rüstungsindustrie in Pilsen, Brünn, Pardubitz und Pisek. Die Lebensumstände im Protektorat waren insgesamt so, dass es zu einem sehr raschen Wachstum der tschechischen Bevölkerung kam.

Vor allem aber waren die Tschechen vom Militärdienst freigestellt. Zwar hatte Präsident Hacha im September 1941, als ein Sieg Deutschlands über die Sowjetunion bevorzustehen schien, Hitler tschechische Truppen angeboten, Hitler lehnte dies jedoch ab. Diese Freistellung vom Militärdienst hatte zur Folge, dass sich nur noch wenige der vielen zweisprachigen Menschen in Böhmen und Mähren aus national gemischten Familien als Deutsche bekennen wollten. Damit wurde die nationale Balance gleich doppelt zulasten der Sudetendeutschen verschoben: Durch deren Dezimierung an den Fronten und zusätzlich durch einen sehr massiven Anreiz für die zwischen den Völkern Stehenden, sich als Tschechen zu bekennen. Es gehört zu den vielen Absurditäten der böhmischen Geschichte, dass sich die zahlenmäßige Relation der beiden Völker seit den Hussitenkriegen niemals so sehr zugunsten der Tschechen verschoben hat, wie in den Jahren 1940-45, also in einer Zeit, in der die vollständige Germanisierung Böhmens das erklärte langfristige Ziel der ultra-deutschnationalistischen Herrscher des Landes war.

Mit diesen Feststellungen sollen die Verhältnisse im Protektorat nicht beschönigt werden. Die politische Unterdrückung war massiv, vor allem nach dem Heydrich-Attentat; ein SD-Bericht meldete gar, dass die Tschechen in dieser Zeit "tatsächlich in der Angst vor Erschießung jedes zehntes Mannes lebten". Außerdem mussten die Tschechen für die Zeit nach dem Endsieg Schlimmes befürchten. Geplant war die Umvolkung (Germanisierung) der Tschechen, was zwar keine physische Vernichtung, aber doch die Zerstörung der tschechischen Sprache und Kultur (also den sog. "Ethnozid") bedeutet hätte. Da außerdem die "rassisch Minderwertigen ausgemerzt" werden sollten, hätten diese Pläne im Falle ihrer Realisierung sogar den Tatbestand des Völkermordes im Sinne der UN-Konvention vom Dezember 1948 erfüllt.

Zu erwähnen ist ferner, dass 1944 bei Kämpfen vor Dünkirchen 170 Tschechen als Kriegsfreiwillige auf alliierter Seite fielen, an weiteren Kriegsschauplätzen gab es weitere geringe Verluste auf alliierter Seite. Wie oben dargestellt, bekannten sich bei der Volkszählung vom Mai 1939 schätzungsweise 80.000 Tschechen im Sudetenland als Deutsche. Da sie deutsche Staatsangehörige waren, wurden sie wie "echte" Deutsche zum Kriegsdienst eingezogen. Die Kriegsverluste auf deutscher Seite betrugen ca. 5,5 % der Bevölkerung, deswegen ist mit über 4.000 tschechischen Gefallenen in deutscher Uniform zu rechnen.

Fazit: Die Gesamtzahl der in der Protektoratszeit infolge der deutschen Besatzung umgekommenen Tschechen könnte 10.000 überstiegen haben. Dies aber vermutlich nur unter Einbeziehung der exzessiv hart bestraften Kriminellen und der im Luftkrieg in deutschen Städten gestorbenen tschechischen Arbeitsverpflichteten bzw. Zwangsarbeiter. - Ein indirekter Hinweis aus tschechischer Quelle legt eine etwas geringere Zahl nahe: In einer tschechische Provinzstadt sollte einmal ein Denkmal für die umgekommenen Tschechen errichtet werden. Man sah dann davon ab, als sich zeigte, dass nicht einmal jedes zehnte der Opfer tschechisch war und über 90% jüdisch. Nun ist aber die Zahl der jüdischen Opfer ziemlich genau bekannt: Sie liegt bei 78.000 - 80.000. Falls also die Verhältnisse in dieser Stadt repräsentativ waren (und nicht etwa dort eine unverhältnismäßig große jüdische Gemeinde bestand) ist dies ein Hinweis auf unter 10.000 tschechische Opfer. Gegen Zahlen von weit über 10.000 spricht auch folgendes: Die gesamte tschechische Historiographie stimmt darin überein, dass die Heydrichiade und Lidice die Höhepunkte der Verfolgung der Tschechen gebildet haben. Dabei gab es, wie gesagt, knapp 1.800 Tote. Opferzahlen von weit über 10.000 würden durchaus nicht zu dieser Gewichtung der Ereignisse in der tschechischen Historiographie passen.

2. Jüdische Opfer

Die Namen von 77.297 Juden der böhmischen Länder, die durch den Völkermord der Nazis ums Leben kamen, sind an den Wänden der Prager Pinkas-Synagoge dokumentiert. Diese Liste gilt als exakt und auch weitgehend vollständig. Die jüdischen Gemeinden in der CR gehen von insgesamt 78.000 bis 80.000 jüdischen Opfern der böhmischen Länder aus und diese Zahl erscheint zutreffend. Damit wurde die jüdische Gemeinschaft um nahezu zwei Drittel dezimiert, vor der Shoa lebten dort rund 120.000 Juden, wobei sich die Nazi-Verfolgung möglicherweise auf eine etwas größere Gruppe bezog: Wer aus der Gemeinde ausgetreten oder nur väterlicherseits jüdisch war, galt den Nazis immer noch als (Halb-)Jude, nicht aber der jüdischen Gemeinschaft selbst. Die immer wieder zu lesenden Zahlen von ca. 140.000 bzw. ca. 240.000 ermordeten tschechoslowakischen Juden sind nicht falsch, beziehen sich aber auf die Tschechoslowakei in den Grenzen von 31.12.1938 bzw. 1937 und nicht auf die böhmischen Länder.

3. Opfer unter Sinti und Roma (Zigeunern)

Nach Angaben tschechischer Roma-Verbände starben ca. 6.500 Sinti und Roma der böhmischen Länder während der NS-Zeit, andere Quellen sprechen von rund 6.000 Toten. Ab 1939 gab es in den böhmischen Ländern zwei Lager für Zigeuner, eines in Lety bei Pisek in Südböhmen und eines in Hodonin bei Kunstat in Mähren. Lety wurde ab August 1942 zu einem echten Todeslager. Eine vergleichende Analyse der Überlebendenberichte aus Lety, die der amerikanische Historiker Paul Polansky in den 90er Jahren gesammelt hat, führt zu einer Zahl von ca. 1.300 bis 1.400 ermordeten und umgekommenen Zigeunern in Lety, das offizielle Prag gibt nur eine Zahl von etwas über 300 Toten zu. Der Lagerkommandant in Lety und die Wachmannschaften waren ausschließlich tschechisch, das Lager wurde im Herbst 1939 eingerichtet, und zwar aufgrund einer tschechoslowakischen Regierungsverordnung, die am 2. März 1939 ergangen war, also zwei Wochen vor der Protektoratserrichtung. Nach weiteren Angaben starben 2.600 Sinti und Roma aus den böhmischen Ländern in Auschwitz, weitere kamen in anderen KZ ums Leben.

Zur Frage der Zahl der Toten unter den Zigeunern der böhmischen Ländern vertritt Paul Polansky eine Mindermeinung: Er ist der Ansicht, dass dort vor 1939 nicht ca. 7.000, sondern ca. 35.000 Sinti und Roma dort gelebt hätten, was wegen einer Manipulation der Statistiken nicht direkt erkennbar sei, und dass etwa 30.000 von ihnen zu Tode gekommen seien. - Wichtige Arbeiten über den Völkermord an den böhmischen Roma hat in letzter Zeit Markus Pape vorgelegt, sie existieren bisher leider nur in tschechischer Sprache.

4. Sudetendeutsche Opfer bis Kriegsende

Etwa 180.000 sudetendeutsche Soldaten starben im Krieg oder in Gefangenschaft (die Angaben schwanken zwischen 175.000 und knapp 200.000), dazu kamen noch an die 10.000 Todesfälle unter sudetendeutschen Zivilisten bei Luftangriffen und Bodenkämpfen. Anders als die Städte Innerböhmens wurden sudetendeutsche Städte massiv bombardiert, beispielsweise Karlsbad, Aussig, Oberleutensdorf, Troppau und Reichenberg. Auch darin kann man eine Anerkennung des Münchner Abkommens durch die Westalliierten sehen, weil wirklich "tschechoslowakische" Städte wohl nicht angegriffen worden wären. Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus starben knapp 1.000 sudetendeutsche Sozialdemokraten und vermutlich mindestens mehrere hundert weitere sudetendeutsche Nazigegner.
 

Quelle: Sudetendeutsche Landsmannschaft