Das Kriegsende und seine Folgen für meine Familie und mich
Elisabeth Kossek, geb. Migula
(Brauerei /Gießhübel),
(15.11.1914 – 7.11. 2004)
Als alles in Grulich am 8. Mai 1945 drunter und
drüber ging, meldete ich mich von meiner Arbeitsstelle ab, um noch irgendwie
nach Hause zu meinen Eltern zu gelangen. Überraschend kreuzte gegen Mittag
unser Lastauto von Gießhübel auf dem Ringplatz auf, um Mehl zu laden und mich
mit nach Hause zu bringen. Mehl gab es keines mehr, dafür konnte das Auto
gerappelt voll geladen werden mit Adlergebirglern, die es gleich mir nach Hause
drängte. Wir fuhren im Schritttempo mitten in den zurückflutenden
Menschenmassen, brauchten für die 70 km durch das Gebirge wohl 12 Stunden, aber
wir schafften es.
Am späten Abend des 9. Mai polterte es an unsere
Haustür und wir vernahmen fremdsprachige Stimmen: Die Russen waren da! Es waren
Offiziere der Vorhut. Nach Durchsuchung des ganzen Hauses – wohl nach
versteckten Soldaten – schlugen sie in unserem Wohnzimmer ihr Quartier auf. Ich
hatte in Vaters Schreibzimmer geschlafen, sehe mich noch wie heute vor einem
Russen stehen, im Schlafanzug, in einer Hand eine Fahrradpumpe, in der anderen
eine Taschenlampe. Mitleidig lächelnd nahm er mir beides ab. Wir mussten uns
dann zu ihnen setzen und mit trinken. Bier verschmähten sie, brachten in
Wassergläsern irgendeinen Fusel herein. Sie konnten deutsch und meinten, vor
ihnen bräuchten wir keine Angst zu haben, aber was danach käme, dafür könnten
sie nicht garantieren. Wir legten uns dann nieder, ich auf die Besuchsritze zu
den Eltern. Nebenan spielte die ganze Nacht das Radio mit ohrenbetäubender
Lautstärke. Es war ein ständiges Kommen und Gehen von Ordonnanzen.
Die nächsten Nächte verbrachten wir im Wald.
Nacheinander stiegen wir am Abend aus der ebenerdig gelegenen Küche – eine
Verwandte aus Breslau mit ihren drei Kindern, Vater, Mutter, meine zehnjährige
Schwester und ich und der Hund. Da und dort tuschelte es im Gelände – wir waren
nicht die einzigen, die im Walde Zuflucht suchten. Der Boden war hart, es war
sehr kalt, Hunde bellten unten im Ort, Leuchtkugeln stiegen auf, Schüsse
fielen, Geschrei war zu hören – das Gros war ja inzwischen eingetroffen, zu
Fuß, zu Pferde oder mit Wagen und mit erbeuteten Kühen. Jeden Morgen für uns
die bange Frage, ob wohl das Haus noch steht, und wie wohl die Wohnung aussieht!?
Wir schliefen dann in der Malztenne der Brauerei, abgelegen und sicher.
Tagsüber hielt ich mich mit den Kindern in der Lichtung eines Wäldchens auf,
Mutter brachte uns das Mittagessen. Einmal kamen deutsche Landser vorbei, die
versuchen wollten, irgendwie gegen Westen durchzukommen.
Die deutschen Frauen mussten in diesen Tagen die
„russischen“ Kühe melken und in Eimern Bier aus dem Lagerkeller der Brauerei
die steile Wendeltreppe heraufschleppen, da die Russen den Aufzug gleich am
ersten Tage kaputt gemacht hatten. Ortsbewohner baten meinen Vater, das
restliche Bier in den Kanal laufen zu lassen, damit die Besäufnisse aufhörten,
doch das konnte Vater nicht wagen, man hätte ihn wahrscheinlich dafür gleich
niedergeknallt. Der Durchzug der Russen durch unseren Ort dauerte, Gott sei
Dank, nicht lange – ging wohl für viele Bewohner auch glimpflich vorbei – aber
dann kamen die Tschechen. Und das war arg!
Aus den benachbarten tschechischen Ortschaften kamen
sie, um ihr Mütchen zu kühlen. Damals wusste man nicht, was sich im Nachbarhaus
abspielte, denn jeder blieb möglichst in seinem Bau, voller Angst. Ein „Narodni
vybor“ wurde gebildet, die Ablieferung von Radios, Waffen, Fahrrädern u.a.
befohlen. Hausdurchsuchungen und Misshandlungen waren an der Tagesordnung. Reichsdeutsche
und Parteiangehörige mussten zuerst den Ort verlassen, fast ohne Gepäck. Bei
den Hausdurchsuchungen wurden wir von den Kommissaren in schamloser Weise
bestohlen. Mit gefüllten Taschen gingen sie immer fort. Meine Mutter sollte
z.B. sagen, sie hätte ihre wertvolle Briefmarkensammlung dem Kommissar
geschenkt. Acht Tage bewohnte ein Offizier mein Zimmer. Ich wollte noch schnell
einige Privatsachen herausnehmen, aber er ließ es nicht zu, es passiere nichts,
er würde nur einige Tage bleiben. Nach 8 Tagen ging er wohl, aber das Zimmer
war ausgeplündert. Die Truhe mit meiner Aussteuer, Radio, Fotoapparat,
Aktentasche, Schuhe, Kleidung, Füllhalter – alles war weg.
Eines Tages wurde eine Liste zu Unterschrift
herumgeschickt zu allen ledigen Frauen des Ortes, sich am kommenden Sonntag mit
Arbeitskleidung am Ringplatz einzufinden zum Abtransport. Ein Lastauto stand
bereit, eine tschechische Militärkapelle spielte. Soldaten mit Gewehren
kontrollierten die Besteigung des Autos von etwa 60 Frauen und jungen Mädchen.
Als das Auto anfuhr, unterdrückten wir Angst, Tränen und Wut, winkten unseren
Angehörigen zu und sangen laut deutsch: Muss i denn, muss i denn zum Städtele
hinaus. - Wir wurden damals auf drei Gutshöfe im Landesinneren aufgeteilt.
So kam ich mit 20 Frauen auf das Gut Vranov. Wir
hausten in einer kleinen Stube, schliefen in Stockbetten, arbeiteten 10 Stunden
täglich unter Aufsicht eines Verwalters mit Reitgerte. Einmal kamen Russen zu
uns ans Feld und sagten, wir sollten doch nach Hause gehen, die Tschechen
hätten kein Recht, uns hier zur Arbeit zu verpflichten. Kenntlich waren wir
wohl auf dem Feld durch unsere Dirndl und Kopftücher. Neben unserem Zimmer
wohnten Slowakinnen. Bei ihnen ging es abends laut zu mit Wodka, Ziehharmonika
und Russen. Ihre Pferde banden sie an Bäume vorm Haus, ahnten lange nicht, dass
wir nebenan wohnten. Die Slowakinnen hielten dicht, doch eines nachts geschah
es, die Scheiben klirrten und zersprangen – wir huschten in panischer Angst zu
hinteren Fenstern hinaus – über den Misthaufen, weg in die Wiesen und Felder
nach allen Richtungen. Ich lag lange in einem Graben, umsummt von Stechmücken.
Als letzte kam ich in den Hof zurück. Das Gesicht war total verschwollen von
den Stichen. – Die nächste Nacht
verbrachten wir auf Stroh im Kuhstall. Da gab es ganz unheimliche Geräusche.
Der Nachtwächter erzählte uns am Morgen, dass die Russen ihm Schnaps,
Zigaretten, Stoffe geboten hätten, wenn er sie hereinließe in den Hof, aber er
blieb unbestechlich. An diesem Tag schleppten wir Säcke vom Getreideboden
herunter und schlugen da oben unser neues Quartier auf. Hier bekamen wir es mit
ganzen Generationen von Mäusen zu tun.
Für mich kam dann bald der Entlassungstag. Wer zu
Hause Landwirtschaft hatte, musste dort helfen, hieß es. Meine Gießhübler
Leidensgefährtinnen mussten noch über ein Jahr verbleiben, bis zu ihrer
Vertreibung.
In Gießhübel waren unterdessen die Hausdurchsuchungen
und Gräueltaten weiter verübt worden. Sechs ehrenwerte, schuldlose Männer
wurden grausam misshandelt und ermordet: Unser Pfarrer, der Doktor, der Heger
des Gemeindewaldes, ein Gerber, der Gastwirt Hasler aus Kuttel und der
Schnappenwirt Moschnitschka. Die Erschießung des letzteren ist besonders
erschütternd, sind doch alle seine drei Söhne im Krieg
gefallen, der Mann der einzigen Tochter ist im KZ umgekommen.
Unsere Brauerei wurde völlig ausgeplündert. Das ganze
bewegliche Inventar, wie Lastauto, Maschinen, Fässer, Flaschen, Getreide,
Hopfen wurde weggeholt.
Die untere Etage unseres Wohnhauses mussten wir räumen
– ohne Möbel – für einen Gendarmen. Vaters Geldschrank holte sich der Narodni
vybor, den Bücherschrank die Schule, das Klavier sonst wer. So wurden wir am
laufenden Band erleichtert.
Eines Tages wurde Vater ins „Narodni dum“ bestellt,
angeblich zwecks einer Auskunft. Die Sache schien ihm nicht geheuer, so ließ er
seinen Schlüsselbund zurück und gab Mutter noch einige Ratschläge. Tatsächlich
kam er nicht zurück. Bewohner berichteten, dass man ihn mit etwa 20 Männern zu
Fuß über den Ringplatz Richtung Untergießhübel abgeführt habe. Sie landeten in
Königgrätz im Gefängnis, ohne Anklage, ohne Schuld.
Nun war die Mutter mit mir und der zehnjährigen
Tochter allein. Die Pferde hatte ja das tschechische Militär „beschlagnahmt“, aber
der Kuhstall war von uns zu besorgen. Die gemolkene Milch musste abgeliefert
werden – ohne Entgelt. Zur Einbringung der Ernte sollten dann Soldaten helfen.
Als ich eines Tages beim Melken war, erschien der
verhaßte Kommissar im Stall und eröffnete mir, dass ich am kommenden Morgen zum
Arbeitseinsatz nach Dobruschka gebracht würde. Ich erwiderte ihm, dass ich erst
kürzlich vom Arbeitseinsatz in Vranov nach Hause geschickt worden sei, um hier
zu helfen. Aber das zählte bei ihm nicht.
So wurde ich am nächsten Morgen von einem
tschechischen Soldaten auf einem Pritschenwagen nach Dobruschka gebracht zu
einem Bäckermeister mit Familie, Haus, Laden und kleiner Landwirtschaft. Die
Slowakin war ihnen davongelaufen. Da hatte der bei ihnen wohnende „saubere“ Offizier
eine deutsche Magd aus dem Gebirge versprochen. Und das war nun ich, die er
beim Melken gesehen hatte.
Über ein Jahr war ich bei den Bäckersleuten.
Natürlich gab es viel zu tun, Dielen scheuern. Geschirr eines
9-Personenhaushaltes und dessen Wäsche zu bewältigen (letztere wurde mit einem
Pferdewagen zum Bach gefahren, dort geschweift, dann auf einer Wiese gebleicht
und dann erst zum Trocknen aufgehängt). Eine Kuh war zu melken, Hühner und
Kaninchen zu füttern, Gänse zu stopfen, Garten- und Feldarbeit zu verrichten.
Natürlich musste ich als Deutsche die vorgeschriebene Armbinde tragen. Wenn ich
mal zum Arzt oder Friseur musste, hieß es, stehen bleiben und bis zuletzt
warten. Zum Einkaufen hat mich meine
Chefin allerdings nie bewegen können, auch, als ich schon gut tschechisch reden
und verstehen konnte. Essen durfte ich mit allen am Tisch, doch wegen der
kommunistischen Lehrlinge und Gesellen fand ich das mir zugedachte Stück
Fleisch oder Kuchen später im Küchenschrank.
In den großen Schulferien mussten alle deutschen
Frauen des Ortes die Bürgerschule vom Dach bis in den Keller scheuern. Auf
diese Weise sahen wir uns alle einmal, konnten miteinander erzählen. Sehr zum
Ärger des Aufseher sangen wir lauthals sämtliche
deutschen Volkslieder, die uns einfielen.
Eines Tages kam meine Mutter vorbei. Sie kam aus
Königgrätz, wo sie meinen Vater im Gefängnis besucht hatte, d.h. sie hatte erst
jetzt die Erlaubnis dazu bekommen. Mutter war fix und fertig – völlig verstört
über das Erlebte. Vom mitgebrachten Essen hatte sie ihm nichts geben dürfen,
musste einige Meter von ihm entfernt stehen bleiben. Sie brachte vor Entsetzen
kein Wort heraus. Vater sah sehr abgemagert und verwildert aus. Ein zweites Mal
könne sie diesen Gang nie wieder tun, erklärte Mutter. Als es später mit Vaters
Gesundheitszustand immer bedenklicher wurde, entließ man ihn eines Tages völlig
entkräftet und mit Hungerödemen. Eine Anklage, Verhör oder dgl. hat dort nie
stattgefunden.
Im September 1946 musste man mich freigeben, weil
meine Familie „dran“ war auf der Vertreibungsliste.
Vor Wochen schon hatten die Eltern ihre Villa verlassen müssen, bekamen ein
Zimmer im alten Wohngebäude der Großeltern zugewiesen. In der Ecke standen die
gepackten Säcke und Koffer. Eines Morgens kam dann der Bescheid, zwei Stunden
darauf fuhren wir auf dem Leiterwagen mit vielen anderen Familien nach Neustadt
an der Mettau.
Nach dem
Massenlager in den ehemaligen Stallungen des Schlosses bewegte sich am nächsten
Morgen ein langer, trostloser Zug Menschen mit Gepäck zum Bahnhof, „begleitet“
auf beiden Seiten von bewaffneten Soldaten. Unser nächstes Ziel war das
Sammellager Halbstadt bei Braunau, wo das Gepäck nochmals durchsucht und
leichter gemacht wurde. Etliche Baracken waren so verwanzt, dass ärztliche
Hilfe nottat. Acht Tage bleiben wir in dem Lager. Dann ging es in Viehwaggons
weiter – 40 Personen mit Gepäck in einem Waggon. Ein langer Güterzug brachte
uns in mehrtägiger Fahrt durch Böhmen, die völlig zerbombten Städte Dresden,
Magdeburg und Rostock an die Ostsee. In dem Quarantänelager Ribnitz-Damgarten
wurden wir untergebracht, entlaust, geimpft, verköstigt und nach und nach in
Privatquartiere eingewiesen. Einige wenige unserer Landsleute wohnen da noch
heute.
So hat die unselige Vertreibung die Bewohner unseres kleinen Gießhübel in alle Winde verstreut.