Wie es uns bei der Vertreibung aus dem Sudetenland ergangen ist

 

Domkapitular Adolf Pohner

 

 

 

Im August 1946 mussten die Einwohner unseres Ortes Gießhübel im Adlergebirge (Sommerfrische und Wintersportort am Fuß der Hohen Mense) immer wieder erleben, dass am Abend die Ärmsten der Armen aus dem Inneren der Tschechoslowakei (die man dorthin deportiert hatte) durch das Städtchen gingen und die Häuser eingehend betrachteten. Sie durften sich ihre künftigen Häuser aussuchen. Die deutschen Einwohner standen voller Angst hinter den Gardinen, denn sie wussten, dass man sie vertreiben würde.

 

Beim ersten Mal war meine Mutter im Krankenhaus in Bad Kudowa. Früh um 6.00 Uhr ertönte lautes Geschrei, und es wurde wild an die Haustür getrommelt. Etwa 16 Partisanen in braunen Uniformen waren erschienen und hatten sich auf mehrere Häuser aufgeteilt. Vor unserer Tür standen vier bis sechs Partisanen mit aufgepflanzten Bajonetten. Meinem Vater wurde bedeutet, dass wir das Haus sofort zu verlassen hätten. Wir dürften nur schnell zusammenpacken, was wir in den Händen mitnehmen könnten. Der Vater stand da wie versteinert. Meine "große" Schwester Maria (10 Jahre alt) füllte zwei Kartoffelsäcke mit allem, was sie so in den Schränken fand. Hinterher stellte sich heraus, dass der größte Teil belangloses Zeug war. Meine "kleine" Schwester Margit (4 Jahre alt) und mich (6 Jahre alt) stellte sie auf das Bett und zog uns alles an, was wir am Leibe tragen konnten: 3 Hemdchen, mehrere Trikothosen, Leibchen, Strümpfe usw. Wir konnten uns kaum noch bewegen. Inzwischen hatte aber ein tschechischer Dorfbewohner, der eine kleine Weberei besaß und der meinem Vater sehr verbunden war, den Bürgermeister im Gemeindeamt aufgesucht. Er bat ihn zu berücksichtigen, dass unsere Mutter im Krankenhaus war, und uns in Ruhe zu lassen. Schließlich ließ sich der Bürgermeister darauf ein und verhandelte mit den Partisanen. Wir durften wieder auspacken, und die Meute zog ab. Meine Schwester Maria erinnert sich noch heute gut daran, dass der Vater danach eine Flasche Schnaps auf den Tisch gestellt und zu ihr gesagt hat: "So, Mariechen, jetzt darfst du deinen ersten Schnaps trinken!" Und Vater und Töchterchen haben unter Tränen gemeinsam einen Schnaps getrunken.

 

Schlimmer erging es meiner Tante und meinem Onkel mit ihren Kindern. Sie mussten ihr Haus innerhalb von 10 Minuten verlassen. Als sie oben noch versuchten, in aller Eile ein paar Habseligkeiten zusammenzupacken, standen unten im Haus schon die tschechischen Nachbewohner und forderten sie zu größerem Tempo auf. Den Kindern rissen sie die Puppen aus den Armen. Die Familie wurde auf ein Gut in der Tschechei gebracht und musste dort ohne Entgelt arbeiten. Vier oder fünf etwa vierzehnjährige Mädchen der verschleppten Familien wurden von Russen brutal vergewaltigt, die dorthin gekommen waren, darunter auch eine meiner Cousinen, ein bildschönes Mädchen. Sie hat das ihr Leben lang nie verwunden und konnte nie eine Beziehung zu einem Mann aufnehmen. Vor drei Jahren ist sie gestorben.

 

Ein paar Tage nach dem oben geschilderten Erlebnis kam meine Mutter aus dem Krankenhaus. Kurz danach wurde uns bedeutet, dass wir nun die Heimat und unser Haus zu verlassen hätten, gemeinsam mit mehreren anderen Familien. Diesmal durften wir einige Kisten und die Betten mitnehmen. Auf Leiterwagen wurden wir in die Tschechei nach Neustadt transportiert. Dort wurden wir in einer riesigen offenen Lagerhalle untergebracht, in der Strohsäcke ausgelegt waren. Von dort ging es in Güterzügen weiter. In unserem Waggon waren 32 Personen eingepfercht, darunter wir kleinen Kinder, aber auch alte Leute, z. B. unser über achtzig Jahre alter Großvater. In der Mitte des Waggons stand ein Eimer, in dem wir unsere Notdurft verrichten mussten. Unterwegs hielt der Zug ein paar Mal an. Am Bahnsteig waren offene Latrinen aufgebaut, und es gab Suppe in großen Milchkannen. Wir dachten zunächst, es sei Nudelsuppe, bis wir feststellten, dass keine Nudeln, sondern dicke Raupen und Maden darin herumschwimmen. Trotzdem haben alle davon gegessen. Während der Fahrt im Waggon ernährten uns die Eltern mit Brotwürfeln, die sie getrocknet hatten.

 

Einige Zeit mussten wir in Halbstadt verbringen. Wir hatten uns mit etwa 15 Leuten aus mehreren Familien einen Raum zu teilen, der total verwanzt war.

 

Wir kamen für einige Wochen in das Quarantänelager Pruchten. In einer der Baracken wurde uns gemeinsam mit einer anderen Familie ein Raum zugewiesen. Wir waren insgesamt 10 Personen. Von dort ging es weiter nach Zingst an die Ostsee. Wir 6 Personen (einschließlich meines alten Großvaters) wurden in zwei winzig kleinen, miteinander verbundenen schrägen Dachgauben untergebracht. Dort war es so kalt, dass sich an den Innenseiten der Fenster dicke Eisblumen bildeten.

 

Einige Männer, darunter unser Vater, haben sich dann aufgemacht und sind mit ihren Familien auf einem Lastwagen nach Westsachsen (Werdau bei Zwickau) aufgebrochen, wo es angeblich Arbeit geben sollte. Die gab es zwar, aber sie wurde so gering entlohnt, dass wir bitterste Armut gelitten haben. Mein Vater setzte sich 1949 in den Westen ab und fand dort eine Anstellung beim Zoll. Im Frühjahr 1950 ist ihm unsere Mutter mit den drei Kindern und einer Katze nach abenteuerlicher nächtlicher Überquerung der Grenze aus der Ostzone in den Westen gefolgt.

 

Soweit meine Erinnerung an die Vertreibung. Mich haben die damaligen Erlebnisse sehr geprägt, obwohl ich als kleiner Junge die ganze Härte der Geschehnisse natürlich bei weitem nicht so erfahren habe wie meine Eltern. Für mich war vieles ein großes Abenteuer. Aber ich hoffe inständig, dass sich ein solches Abenteuer bei uns nicht bald wiederholt. Und ich nehme mit Betroffenheit und Besorgnis wahr, wie viele Flüchtlinge es auch in unseren Tagen an verschiedenen Orten dieser Welt gibt.

 

Anmerkung: Dieser Bericht wurde geschrieben für Schüler  des Gymnasiums Munster, die sich im Rahmen des europaweiten Comenius-Projektes mit den deutschen Vertriebenen des 2.Weltkriegs beschäftigen. Er ist erschienen unter

 

http://geschichtsatlas.de/~gc31/daten/domkapitularpohner.htm

 

und wurde uns freundlicherweise von Herrn Pohner zur Verfügung gestellt.

T.F.