,,Ein Spiel nur"

Brigitte Siepmann

,,In ein katholisches Pfarrhaus?!". Die junge Frau wehrt erschrocken ab. ,,Ich habe zwei kleine Kinder und meine Älteste ist sehr lebhaft. Ein Pfarrer braucht doch Ruhe für die Vorbereitung seiner Predigten". Und ein wenig leiser fügt sie hinzu: ,,Wir sind auch evangelisch".
Die Gemeindehelferin, in diesen Zeiten des letzten Kriegs über die Maßen gefordert, den knapp zur Verfügung stehenden Raum auf die aus dem Altreich zugewiesenen Bombengeschädigten harmonisch aufzuteilen, sieht erstaunt hoch. Dann erklärt sie lächelnd: ,,Wenn Sie das so sehen, dann sind Sie gerade richtig!" So kommt die junge Mutter, die der Krieg bereits zur Witwe gemacht hat, mit zwei Mädchen im Alter von 5 und 7 Jahren im Frühsommer 1944 in die kath. Pfarre des Kleinstädtchens Gießhübel im Adlergebirge.
Der nur seiner Berufung lebende Pfarrer und seine ältere Haushälterin, eine warmherzige, gutmütige Frau, nehmen den unruhigen Zuzug gelassen und als gegeben hin. Nie verlieren sie in der Folgezeit ein einziges Wort über das Getrippel und Getrappel auf den Holzdielen zu ihren Häuptern. Und es scheint sie auch nicht zu stören, wenn in Abwesenheit der Mutter laute Gesänge vom ,,lieben Augustin" und andere, begleitet von schrillen Dissonanzen auf der Mundharmonika, die Stille des Hauses aufheben. (Ein halbes Jahrhundert später erinnert sich der Sohn Hubert des Nachbarhauses noch an das Mädchen, mit dem er zur Schule ging, im weißen Kleid im Flurfenster hockend und laut gegen den Regen ansingend: “Es regnet, Gott segnet, die Erde wird naß...". )
Die Toleranzgrenze im Pfarrhaus den Kindern gegenüber  maß sich an der Friedfertigkeit und Großmut seiner Bewohner und war weit gesteckt. Sie umfaßte auch jenen gröblichen Unfug, den die Kinder am Kräuterbeet im kleinen Gärtlein hinter dem Haus anrichteten. Ein Spiel nur; ein Spiel, wie sie es gerade erfahren hatten und das unter Kindern als ,,Dauerwellen machen" gespielt wurde. Dazu wurde der Stängel des gelben Löwenzahns zweimal längs eingeritzt, worauf er sich unter allgemeiner Begeisterung in vier mehr oder minder straffe  Locken aufrollte.
Was sich am Löwenzahn so herrlich tat,  müßte sich auch an den Pflänzlein des Kräuterbeetes tun,  erhellte die frühen Sinne. Aber so sehr sie auch schnitten, schnippelten und ritzten, weder Schnittlauch, Persilie noch andere Pflänzchen zeigten das am Löwenzahn erprobte.
Lediglich die Mutter der Kinder geriet angesichts des verwüsteten Beetes mit den Verworfenen, abgeernteten Kräutern so außer Fassung, daß sie das kleine Areal den Kindern ein- für allemal für tabu erklärte. Die ihnen, besonders dem älteren Mädchen, gehaltene geharnischte Strafpredigt ließ sie für alle Zeiten sich einem Kräuterbeet mit angemessenem
Respekt nähern.
Die Kinder bereuten und bedauerten und wußten nicht so recht, was – es waren halt Großstadtkinder.

Das herzliche Einvernehmen mit der Pfarre aber blieb weiter ungetrübt.