Erinnerung an "Mariannla" aus Untergießhübel
 

Unweit von uns wohnte in einem alten Haus ein älteres Fräulein, das alle

Mariannla

nannten. Ihren richtigen Namen habe ich nie erfahren. Da sie immer lange Röcke und Kopftücher trug, kam sie mir schon alt vor. Es wurde erzählt, dass sie Garn aufspule und sich so etwas verdiene. Mit Nachbarn sprach sie in unserem Dialekt. Ich glaube nicht, dass sie das Hochdeutsche beherrschte.

Den Sommer über sahen wir sie mit ihrer Schwester zusammen mit einem Tragetuch unterm Arm in den Wald wandern, den wir "Wölfei" nannten. Von dort holte sie ihre Vorräte für den langen Winter. Sie sammelte Beeren und Pilze, pflückte von den waldnahen Wiesen Kräuter und Kümmel. Sie trocknete alles und verwahrte es.

Als Kind bewunderte ich sie immer, weil sie so große Bündel trockener Äste auf dem Rücken schleppen konnte. Durch die schwere Last musste sie gebückt gehen. Sie schaute weder nach links noch nach rechts und schritt nur immer vorwärts auf ihrem Weg nach Hause. Auf diese Weise hat sie ihre ganze Winterfeuerung herangeschafft. Von den gehackten Ästen machte sie einen "Versootz". Diese aufgesetzte Schicht von Reisig an der Außenwand wärmte ihre Stube und trocknete gleichzeitig.

Einmal schickte mich Mutter mit Eiern zu der alten Frau. Ich war gespannt auf ihre Stube, denn ich war noch nie bei ihr gewesen. Deswegen verweilte ich etwas und schaute mich in dem Raum um. Da stand, wie überall in unseren Stuben, der große Kachelofen mit der Kochplatte, der großen Back- und Bratröhre und dem "Uwatoop", wo das Wasser erwärmt wurde. Zum Sitzen und Aufwärmen am Ofen diente eine Ofenbank. Darüber hingen die "Stänglan" zum Trocknen von Wäschestücken. Ich sah einen schmalen Kleiderschrank, einen Tisch mit zwei Holzstühlen, das Bett am Fenster, eine bunte "Loode" (Lade) und ein "Toopbrat" (Geschirrschränkchen). Durch zwei kleine Fenster kam das Licht herein.

Mariannla war mit ihrem bescheidenen und sehr genügsamen Leben zufrieden. Sie beklagte sich nie. Sie war wohl auch noch nie aus dem Ort herausgekommen und hatte nichts Besseres gesehen.

Ich fragte sie bei meinem Besuch: "Was kocht Ihr Euch denn zum Abendessen?" Sie antwortete: "Ich koche mir a Eila."  Wir Kinder mussten damals alte Leute mit "Ihr" ansprechen.

1946 wurde sie auch ausgesiedelt und kam nach Lübtheen in Mecklenburg. Wir hörten, dass sie bis zu ihrem Tode in einem Altersheim untergebracht war.

Noch heute, nach über 55 Jahren, denke ich manchmal an Mariannla und behalte sie als Gießhübler Original in guter Erinnerung.

Margarethe Kirschner, geb. Rolletschek



Anmerkung

"Mariannla" war Frau Marie Bittner aus Untergießhübel Nr. 28.
Sie gehörte zu der Gruppe, die am 1.August 1946 aus Gießhübel vertrieben wurde.
Wir wurden in Güterwagen bis nach Bad Schandau verfrachtet und mussten dort in andere Güterwagen umsteigen. Dann ging die Reise mit unbekanntem Ziel weiter und endete in Lübtheen (Mecklenburg), das damals noch an das Schienennetz der Deutschen Reichsbahn angeschlossen war. Wir alle wurden im benachbarten Jessenitz in einem Barackenlager untergebracht, in dem bis zum Kriegsende Fremdarbeiter gewohnt haben.
Nach etwa 1 Woche wurden alle "Umsiedler" auf die umliegenden Ortschaften verteilt. Frau Bittner wurde in das Altersheim Lobetal, das von evangelischen Schwestern geführt wird, eingewiesen.
Sie hatte große Kommunikationsprobleme, weil sie nur die Gießhübler Mundart sprach und die Einheimischen in der Regel Plattdeutsch redeten. Im Altersheim Lobetatal war sie in einem Raum untergebracht, in dem mehrere Frauen aus Königsberg wohnten und sich "ostpreußisch" verständigten.
Ich erinnere mich an Mariannla noch sehr gut. Sie trug mehrere dunkle Röcke übereinander, hatte ein Kopftuch und saß stets auf ihrer kleinen "Lade" (Truhe). Dabei bedeckte sie mit ihren Röcken die gesamte Truhe.
Wir Kinder liefen oft um sie herum und riefen: "Bittner, Bittner, bumm, bumm, bumm, em die Tonne drem herum". Die größeren Buben klopften manchmal mit ihren selbst geschnitzten Stöcken gegen die Rückseite.
Mariannla weigerte sich beharrlich, von ihrer unbequemen Sitzgelegenheit aufzustehen. Mein Vater und mein Onkel Wilhelm haben Mariannla auf der Truhe sitzend in Jessenitz auf einen Leiterwagen aufgeladen und im Altersheim Lobetal ebenso wieder abgeladen.
Sonntags haben meine Eltern mit uns Kindern sehr oft nach dem Kirchgang auf dem Heimweg einen Umweg (ca. 2 km) über Lobetal gemacht und Mariannla besucht.
Manchmal schenkte sie uns Kindern "en Biema" (ein 10-Pfennigstück).
Über unseren Besuch hat sie sich immer sehr gefreut.

S.K.