Mai 1945 in Gießhübel

Margarete Kirschner, geb. Rolletschek

 

Heute ist der 10. Mai 2001. Ich erinnere mich noch gut an den 10. Mai 1945 und die Tage danach.

Schon wochenlang waren deutsche Soldaten und Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands in Richtung Westen gezogen. Die Straße, die dicht an unserem Haus vorbeiging, führte in die Tschechoslowakei nach Neustadt und Königgrätz.

Am Abend des 9. Mai baten uns deutsche Soldaten mit ihren Pferden um Unterkunft. Mutter verpflegte sie, und dann fanden sie einen Schlafplatz im Heu. Die Pferde kamen in der Scheune unter. Und auch wir gingen zur Ruhe.

Der 9. Mai war der erste Friedenstag.  Nur wir wussten es nicht, dass der Krieg zu Ende war.

Am nächsten Morgen klopfte es gegen 4 Uhr sehr heftig an die Haustür. Vater öffnete. Vor ihm stand der erste russische Soldat. Er verlangte Socken. Vater suchte ein Paar heraus. Indessen hatte der Soldat die Stiefel ausgezogen und sich der zerrissenen Fußlappen entledigt. Er zog Socken und Stiefel an und ging wieder.

Die Familie war nun in heller Aufregung. Keiner konnte mehr ein Auge zumachen. Die Soldaten auf dem Heuboden wurden aufgeweckt. Als sie von der Ankunft der Russen erfuhren, machten sie sich Hals über Kopf mit ihren Pferden davon. Sie ritten über die Berge in Richtung Wald. Es dauerte nicht lange, da zogen statt des deutschen Militärs russische Einheiten bei uns vorbei in Richtung Tschechoslowakei.

Wenn die Kolonnen anhielten, kamen die Soldaten in die Häuser an der Straße und nahmen mit, was sie gebrauchen konnten.

Mutter und Tante zogen Omas lange Kleider an, banden Kopftücher um und machten sich unansehnlich. Wir größeren Mädchen wurden versteckt. Mutter brachte mich abends zum Stellmacher (Wäner). Die Familie wohnte abseits von der Straße. Ein Zimmer des Hauses lag nach hinten und war nicht so leicht zu finden. Dort kamen einige Frauen und Mädchen aus der Nachbarschaft unter.

In den nächsten Tagen wurden die versprengten deutschen Soldaten zusammengetrieben. Auf der Wiese hinter unserem Haus übernachteten die vielen Gefangenen. Die Bewacher machten Feuer an mit dem Holz aus unseren Holzmieten. Am nächsten Morgen trieb man die Gefangenen zurück nach Osten in die russische Gefangenschaft. Da es sehr heiß war, stellten die Leute Eimer mit Wasser an den Straßenrand. Es durfte aber kein Gefangener daraus trinken. Es war schon ein elender Zug von jungen Männern.

Tagelang zogen die Russen durch Gießhübel. Abends kamen sie in die Häuser, suchten Schlafplätze, kochten sich ihre Mahlzeiten und wuschen sich tüchtig in unseren hölzernen Bottichen, die sie mitten in die Stube stellten. Dann begann der Rückzug aus der Tschechei. Alles begann von vorne.

Die Eltern hatten vieles unter Heu und Stroh versteckt. In einem Bauernhaus finden sich Verstecke. Vor die Speisekammer wurde ein großer Schrank geschoben.

Einmal spielten meine kleinen Schwestern auf dem Boden. Als die Soldaten den Lärm hörten, wurden sie misstrauisch. Sie mussten gerufen werden. Als sie die Kinder sahen, waren sie freundlich zu ihnen, gaben ihnen Kaffee mit viel Zucker zu trinken und beschäftigten sich mit ihnen. Die Eltern hatten den Eindruck, kinderfreundlichen Menschen begegnet zu sein.

Eines Nachts kamen zwei russische Soldaten bis in unser Schlafzimmer und verlangten zwei Federbetten. Ich kroch in meiner Angst unter die Bettstelle und sah die Stiefel der Männer auf- und abgehen. Als sie das Gewünschte hatten, gingen sie wieder.

Nach und nach zog das russische Militär ab, und die Tschechen kamen nach Gießhübel und mit ihnen der Terror gegen alles, was deutsch war.