Mein Schulweg – der Weg ins Leben

Franz Linke

Ich war gerade 6 ½ Jahre alt, als ich von unserer abseits gelegenen Heimstätte, dem 752 m hohen Stenkaberg, runter ins Gießhübler "Staadtla" zur Schule gehen musste. Der Weg dorthin war etwas über 2 km lang, wir sagten "1/2 Stunde weit". Es war 1929, ein schöner 1. Septembertag, als mich meine Schwester Anna, die im gleichen Jahr ihre Schulzeit beendet hatte, zur Volksschule begleitete.


Gießhübler "Staadtla" mit dem Stenkeberg
(links Hohe Mense)

Mein Schulweg war mir wohl bekannt, und ich war unbekümmert, ihn die nächsten 4 Jahre allein gehen zu müssen. Im Gegenteil, so weit es in meinen Erinnerungen liegt, empfand ich eine gewisse Genugtuung, diesen - auch in meinem späteren Leben - geliebten Weg allein gehen zu dürfen. Es war noch nicht ½ 8 Uhr, als mich meine Mutter jeden Tag mit "Gott empfohlen!", der Schultasche und zwei dicken Butterbroten auf den Weg schickte. Sobald ich das "Peschla" , ein kleines Waldstück, hinter mir hatte, sah ich das Gießhübler"Staadtla", die ganze Weite des Kuttler Tales, dahinter das Riesengebirge, das Braunauer Ländchen, den langen Riegel des Heuscheuergebirges, davor rechts den Pansker zum Greifen nahe liegen. Doch für solche Betrachtungen war meist keine Zeit mehr; denn wenn am Hang bei Lewin der Zug von Bad Reinerz aus dem 1. Tunnel fuhr und gleich in den zweiten hinein und nicht mehr weit vom Viadukt und vom Lewiner Bahnhof war, musste man sich sputen, um rechtzeitig in der Schule zu sein! Wer wollte schon in der 1. Klasse bei Rudolf Finger zu spät kommen!


Viadukt in Lewin

Also hurtig das ausgetretene Steiglein hinab, welches nach Teuners Feldern einmal rechts, dann wieder links vom holprigen Fahrweg lief! Man brauchte sich auch bei starkem Tau oder Nässe vor dem Ausrutschen nicht zu fürchten, war es doch mit Spitzwegerich und anderen Kräutern bewachsen. Bald war ich bei den "Dörnersträuchern" (Dornenhecke), bei der großen Eberesche und an Landgrafs Haus vorbei im "Staadtla" und über den Ringplatz in der Volksschule .

Die Schule war an vier Tagen in der Woche um ½ 4 Uhr aus, Mittwoch und Samstag schon zu Mittag. Ich freute mich auf zu Hause und machte mich hurtig auf den Heimweg, damit sich die Mutter keine Sorgen machte. Es blieb keine Zeit mehr, unterwegs zu verweilen.

Gelegentlich aber kehrte ich dennoch eine Weile bei Landgrafs ein, wo Karli an seinem Radio oder Motorrad bastelte. Er machte wunderbare Arbeiten. Wir hörten zuerst über Kopfhörer und später über Lautsprecher von Radio Breslau das beliebte Schallplattenkonzert. Und ich durfte schon mal den Akku in die Zentrale zum Aufladen bringen oder 1 Liter Benzin vom Stepan holen. Im ersten Jahr meines Schulbesuchs habe ich sogar bei Landgraf zu Mittag gegessen. Frau Landgraf kochte wunderbare Kartoffelgerichte, und noch heute habe ich den Geschmack von "Pietsch" im Munde, ganz zu schweigen von "Beerpietsch" mit Blaubeeren.

Wie oft gehe ich heute noch in Gedanken diesen Schulweg!

Rechts vom Steiglein war Bauer Lemfelds Feld, gleich am Anfang hinterm Landgraf. Es fiel mir auf, wie Lemfeld immer sorgfältigen Abstand vom Steigel beim Ackern hielt. Er wusste wohl, wie schwer es gewesen wäre, hätten die Leute auf dem steinigen Weg gehen müssen. Linker Hand waren Nowaks Grundstücke und eines weiteren Kuhbauern aus dem "Puschdärfla", dem Janko . Dann machten Weg und Steg eine scharfe Biegung nach links, und der mächtige Wall der Dörnersträucher, der Heckenrosen begann. Der Wall war etwa 150 m lang und fast undurchdringlich. In dem Geflecht von altem, hohem Gras und der Dornenhecke verbargen sich Igel, Wiesel und allerhand anderes Getier. Jede Menge Hagebutten waren für Herbst- und Winterfutter vorhanden.


Hagebutten

Am Ende des Strauchwerkes zweigten Weg und Steg nach rechts ab, geradeaus führte der Rasenweg an Dörner Sefflas und Effenbergers Feldern vorbei, bis er sich in Nowaks Besitz verlor. Dahinter begannen die "Brända", eine Wiese mit großem Blumenreichtum und seltenen Pflanzen, wie Arnika. Eine eigenartige Stimmung lag über den Bränden Vielleicht lag es an der Stille, von keiner landwirtschaftlichen Tätigkeit gestört, an den vielen, verschiedenartigen Pflanzen und den umherschwirrenden Libellen! Ungezählte Ameisenhügel erschwerten das Mähen, wenn überhaupt gemäht werden konnte.


Arnika

Ein kleiner Naturteich fand sich fast am oberen Ende,  angrenzend an Teuners (Brända-Teuners) Besitz. Ein Steiglein führte, vom Buschdörfel kommend, durch die "Brända" und endete bei Teuners Hof. Ich ging kaum diesen Schulweg, auch in späteren Jahren nicht, wenn wir mit den Pollomer Bürgerschülern zu fünft waren.

Deshalb zurück zur Abzweigung, die geradeaus auf den Stenkeberg führte, das Steiglein diesmal links. Oftmals legte ich auf dem Heimweg nach den Sträuchern eine Pause ein und ließ die Beine baumeln. Hinter meinem Rücken arbeitete Dörner Seffla mit seinen Kühen, die er lautstark antrieb - gegenüber die Effenberger Mädeln mit ihren zwei mageren Kühen, immer schweigend die schwere Arbeit des Aufbrechens der Brache für die neue Roggeneinsaat verrichtend. Kein Wort des Aufmunterns an die Kühe kam über ihre Lippen. Um wie viel besser hatten es doch Jirku und Teuner, Jirku mit den Pferden und großen Äckern, Teuner mit zwei Paaren ausgeruhter und gut genährter Kühe! Die große Hecke markierte die Hälfte des Weges bis zu meinem Elternhaus.

Nach zehn Minuten war ich beim "Peschla" und genoss die herrliche Rundsicht in der warmen Nachmittagssonne. Halblinks von mir lag in ca. 3 km Luftlinie der liebliche Ort Tassau hart an der deutsch-tschechischen Grenze. Unvergesslich das am Südosthang liegende Schlesierland, mit schon fruchtbaren Böden – eine Idylle für sich!


Gießhübel mit dem schlesischen Hinterland

Dann das Riesengebirge bei klarer Herbstsicht, das Braunauer Ländchen mit dem Berg Wostasch im Vordergrund, sich daran reihend der langgezogene Rücken der Heuscheuer, hinter der am südöstlichen Ende der Wallfahrtsort Albendorf lag, oft eine Begegnungsstätte zwischen Deutschen und Polen.

Dann versperrte die mächtige Barriere des Panskers den weiteren Blick ins Schlesierland. Von hier, meinem Aussichtspunkt, waren es noch drei Minuten bis zum Elternhaus. Mutter wartete schon auf mich und sagte mir, was in der Bratröhre steckte.

Die schönsten Monate auf meinem Schulweg waren der September und der Oktober.

Im frühen Herbst, an sonnendurchfluteten Tagen, gingen wir, zusammen mit den Pollomer Schülern, den Weg über "Lemfelds Lehne", einen wunderschönen, recht steilen Flecken am Nordhang des Stenkeberges, von unserem Feld steil zum "Staadtla" hin abfallend, direkt unterhalb des höchsten Punktes des Stenkeberges. Ein einsames, stilles Plätzchen abseits der letzten Wegspuren, wo wir uns ausruhten und die Rundsicht genossen und ... Silberdisteln abschnitten und aßen, diese 3-4 cm kleinen, runden, leicht würzig schmeckenden "Brötchen", die für uns eine Delikatesse waren.


Silberdistel

Wir fühlten uns dort an dem Platz mit den vielen Disteln, die nur auf kargem Boden wachsen, in der Stille und Abgeschiedenheit des Hanges, als ob alles unser Eigen wäre. Ich würde den Platz noch heute sofort finden, auch wenn die Umgebung verändert wäre, und ich fühle wieder den starken Schmerz des Verlorenen, der sich sogar physisch in meiner Brust ausbreitet.

Allmählich aber senkten sich die leichten Schleier des Herbstes und ließen das Kuttler Tal und die erspähbare Weite entfernter erscheinen. Nur mein liebes Tassau war immer nahe und von mir ins Herz geschlossen. Die Bauern an meinem Wege ernteten den Hafer, ein wenig später auch die Kartoffeln - bei Lemfeld, Jirku und Teuner mit der Schleuder, unsere Effenberger Mädeln wieder schweigend in gebückter Handarbeit. Wo sie wohl ruhen, diese geduldigen, anspruchslosen Menschenkinder, die man nicht vergessen kann? Rechts und links vom "Steigla" wurde das Kartoffelkraut verbrannt, ein symbolischer Akt des Abschiednehmens; jetzt blieb nur noch eine kurze Zeit bis zum Herannahen des Winters.


Wintersportplatz Gießhübel i.A. - Pollomer Koppe, Riesengebirge

Und da war er schon, der Winter! Über Nacht trieb der "Polake", der Sturm aus dem Osten, Schnee und Kälte über das Land. Die "Schneeschuhe" oder Skier, wie man heute sagt, waren schnell bereit, die Bindung gefettet. Ich erhielt mein erstes und einziges Paar bei Wintereinbruch 1929. Hui... ging es den Stenkaberg hinab! Da war keine Zeit mehr für Betrachtungen, was in der weiten Welt und im Kuttler Tal geschah! Wir fuhren auf Skiern bis in den März hinein. Bei Landgrafs bildete sich immer ein großer "Windstrich", eine Schneewehe, von dieser abwärts bekam man noch einmal richtig Schwung.

Wurde es dann aber zu kalt und stürmisch, mussten wir unseren Schulweg "auf den Heger zu" verlegen. Vom "Staadtla" aus ging's durchs Buschdörfel, im Kohlgraben bis zum Hegerhaus, dann den Hochwald entlang bergauf bis zur Höhe des Feldkreuzes. Hier zerzauste uns der Sturm noch einmal tüchtig. Selbst bis weit in den Frühling hinein hielten sich die großen Windstriche. Ich erinnere mich noch, dass in Zeuner Heinrichs Walde Reste von Schnee bis in den Juni hinein lagen.

So führte mich mein Schulweg acht Jahre lang ins Gießhübler "Staadtla" und formte darüber hinaus die Erwartung an mein künftiges Leben.