Der Stenkaberg – meine Heimat

Franz Linke
 


Blick vom Stenkaberg ins Gießhübler Staadtla
mit dem schlesischen Hinterland
(Foto von 1911)

Parallel zum Gießhübler Tal erhebt sich auf der Südseite bis auf etwa 700 m der Stenkaberg, von Gießhübel erreichbar in einer halben Stunde. An der höchsten Erhebung befand sich ein kleines Wäldchen, ein Rastplatz für Menschen und Zugtiere bei beschwerlicher Feldarbeit. Im Sommer wuchsen dort Blaubeeren, den Boden bedeckte "Mäusegras", zur Ruhe und Rast einladend. Der Stenkaberg fällt nach der Gießhübler Seite mäßig steil ab, nach der Pollomer Seite geht er wellig in die böhmischen Vorberge über.

Am Scheitelpunkt auf der Hochfläche steht auch heute noch ein aus Stein gehauenes Kreuz, von wo aus man einen weiten Blick bis hin zur Schneekoppe, ins Braunauer Ländchen und zur Heuscheuer hatte, die zusammen mit dem Pansker den weiteren Blick ins Schlesierland versperrte. Auf der gegenüberliegenden Seite liegt Pollom, dann Sattel. Eine Sicht in das böhmische Land versperren die Vorberge. Das Kreuz steht am Fußweg von Pollom nach Gießhübel. Es wurde im vorigen Jahrhundert im Auftrag von Jarosch von einem schlesischen Bildhauer errichtet. Mein Vater ließ es in den dreißiger Jahren von der "Bildhauerin" Hartmann für 300 Kronen restaurieren. Es lud jeden Vorbeigehenden zur Rast und Besinnlichkeit ein. Historisch gesehen, stand es am "Deutschen Steig", so genannt nach dem Kaiser Josef II., der von Kronstadt kommend, mit seiner Eskorte den Stenkaberg überquerte, durch den "Kohlgraben" ritt und von dort, einem Fußpfad folgend, über Ober-Gießhübel das schlesische Gebiet erreichte.


Kreuz am deutschen Steig

Wir waren sehr stolz darauf, dass der "Deutsche Steig" unsere Hofstelle überquerte. Auch die Wallfahrer nach Albendorf gingen diesen Weg. Heute ist das Kreuz von weitem nicht mehr sichtbar, weil Tschechen Bäume herum gepflanzt haben.

Der Stenkaberg war von 3 Familien bewohnt. Auf der Nordseite war der Hof vom "Brända Teuner", 300 m weiter war unsere Hofstelle beim "Linka", noch etwas weiter in Richtung Pollom war die "Zeunern". Die Pollomer nannten die Familien "beim Teuner Tons", "beim Linka Frenzl" und "bei der Tilda". Überhaupt unterschied sich der Pollomer Dialekt von der Gießhübler Mundart. In Gießhübel sagte man z.B. für nein "nee", in Pollom "nai". Für sagte "säte", in Pollom "soite" usw. Aus dem e wurde entweder ai oder oi, und das ziemlich breit ausgesprochen. Die 3 Stenkaberg-Familien hielten viel darauf, zur Gemeinde Gießhübel zu gehören, obwohl sie keine echten Gießhübler waren und gewissermaßen im "Niemandsland" wohnten.

Das Wetter war bei uns schon etwas rauer als z.B. in Unter-Gießhübel oder Kuttel. Im November und März hatten wir oft dichte Nebel, die die Sicht nur bis hinter die Fensterscheiben freigaben. Das Tagesgespräch um diese Zeit war, wer sich und wo sich jemand verirrt hatte. Alle lachten darüber, außer den Betroffenen, die nach langem Umherirren den Lichtschein fanden, der die Orientierung gab. Lebensbedrohlich konnte das Verirren im Winter bei hohen Schneeverwehungen werden, wenn jemand die "Bahn" verloren hatte.

Die jüngere Generation benütze allgemein die Skier, oft bloß mit der Latschenbindung versehene Bretter. Hui, wie ging das den Stenkaberg hinab nach Gießhübel, für uns Schüler in Schussfahrt bis vor die Bürgerschule. Der Stenkaberg war völlig ungeschützt den Stürmen des "Polacken" ausgesetzt. Er tobte in der Regel mehrere Tage und brachte große Kälte und Schnee mit sich. Der Weg über den Berg war dann unpassierbar. Wir gingen und fuhren dann durch den Kohlgraben (Hegerhaus) im Windschatten des Hochwaldes.


Winter im Adlergebirge

An solchen Tagen blieb man am besten zuhause in der großen Stube, wo man sich geborgen fühlte, während auf dem Schindeldach bei über 20 Grad Kälte krachend die Nägel heraussprangen. Wohl dem, der einen guten Kachelofen hatte! Wir hatten so ein wunderbares Stück vom Ofensetzer Rudolf Meier aus Gießhübel. Mit einem Minimum an Brennmaterial wurde die Stube warm gehalten, gekocht, gebacken und Warmwasser bereitet. Auf der Ofenbank wärmte man sich den Rücken, über dem Ofen waren Stangen zum Trocknen von Kleidung.

Das Heizmaterial für die Leute vom Stenkaberg und auch anderswo in Gebirgsnähe waren Rinden, Reisig und "Astkolpen", welche der Wald umsonst hergab. Für den Winter brauchte man jedoch 2-3 Raummeter Buchenholz. Im Sommer mussten die Kühe oft vor den Wagen gespannt werden, um aus dem Wald über halsbrecherische Hohlwege Rinden und Reisig zu holen. Wir erzeugten weder Luftverschmutzung noch Müll. Die wöchentliche Zeitung lieferte das Papier für alle Zwecke, auch zum Einpacken des Butterbrotes. War das Brot frisch, konnte es passieren, dass man auf dem Vesperbrot die großen Lettern der Zeitung lesen konnte.

Brot gebacken wurde alle 2 Wochen, manchmal borgte man sich auch einen Laib vom Nachbarn. Der Gebirgswinter-Roggen war der beste Rohstoff für unser Roggenmehl. Der böhmische Roggen aus den Vorbergen hatte nicht diese Backqualität. Wir auf dem Stenkaberg konnten immer das eigene Saatgut verwenden; das zeigt, wie gut Korn und Boden zueinander passten.

Nicht nur der Winter zeigte seine starke Hand, sondern auch im Sommer bekamen wir sie zu spüren. Aus dem Innern Böhmens floss oft schwüle Luft ein. Sie traf am Gebirgsrand auf kühlere Luft, was zu schweren Gewittern führte, die sich oft stundenlang austobten. Dann knieten wir in der Stube mit der geweihten Kerze in der Hand. Erst letztes Jahr schrieb mein Vetter von so einem schweren Gewitter, das die ganze Nacht tobte.

Von unseren beiden Nachbarn war der Brenda Teuner der Wohlhabendste. Er hatte 10 ha schönes Land auf der Nordseite und war ein Vollerwerbsbetrieb mit moderner Wirtschaftsweise und guten Erträgen. Teuner war auch zeitweise stellvertretender Bürgermeister. Sein Hof hatte neben der Langbauweise noch einen Querbau. Teuner war auch bekannt für Sparsamkeit. So wurde berichtet, dass er die Helfer beim Kartoffelauflesen beim Vespern zu mehr Quarkessen ermunterte, um Butter zu sparen. "Loite, asst ock Quork, da kiehlt!" Spiel-Veitla, ein Listiger, entgegnete: "On ich asse Putter, on wenn ich verbrieh!". Solche Äußerungen waren ein Teil des dörflichen Gesprächsstoffes.


Beim Brända-Teuner

Zeuners Hof war etwa ebenso groß, und Heinrich war ein guter Bauer. Als er eingezogen wurde, tat seine Frau die schwere Männerarbeit. Unser Hof war der Kleinste, und Vater musste im Wald als Holzfäller, wenn immer es die Zeit erlaubte, dazu verdienen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass es in jedem der 3 Häuser etwas anders roch. Bei Teuners roch es stark nach Landwirtschaft, bei Zeuners war der süßliche Geruch nach Schnupftabak unverkennbar. Bei uns roch es nach Holz und Harz, was von der Arbeitskleidung meines Vaters herrührte. Ich könnt heute noch mit verbundenen Augen sagen, auf welchem der 3 Höfe ich wäre, wenn ich es röche! Die Zeunern und ihr Bruder Adolf schnupften kräftig, was wohl zu ihrem hohen Lebensalter von 95 Jahren beitrug. Meine Mutter wurde 98 Jahre alt, ebenso Frau Teuner.

Wir lebten sparsam, doch wenn ein Fremder vorbeikam, ob Deutscher, Tscheche oder Slowake, gab es immer eine Schnitte Brot mit Butter und Quark und dazu einen Topf Buttermilch. Als während des Krieges die Menschen aus Berlin oder Breslau auf der Suche nach etwas Essbarem vorbei kamen, ging keiner leer aus. Sie dankten es oft mit Tränen in den Augen. Keiner von uns hätte zu diesem Zeitpunkt vermutet, dass wir selbst einmal auf der Suche nach Brot sein würden.

Der Stenkaberg ist heute glattgeschoben, das Wäldchen abgeholzt, keine Heckenrosen blühen mehr. Die feuchten Wiesen am Südhang sind völlig versumpft, weil kein Wassergraben das Wasser ableitet. Teuners und unser Haus sind noch bewohnt, Zeuners ist schon viele Jahre abgerissen, nur überwucherte Mauerreste zeugen noch von einer früheren Heimstatt. Es stimmt traurig, das alles zu sehen und gedankenschwer tritt man nach einem Besuch die Rückreise in den Westen an, im Bewusstsein, den ursprünglichen Stenkaberg nirgendwo in der Welt mehr zu finden.