Der Schlangenkönig

Im Adlergebirge, unter der bewaldeten Hohen Mense, liegt oberhalb von Gießhübel das Dörflein Pollom. In einem kleinen, hölzernen Häuschen wohnte der junge Hans mit seiner Mutter. Er ging einmal auf die große, mit Heide bewachsene Wiese, um kleine Fichtenpflanzen einzusetzen. Unterhalb dieser Wiese stand eine Buche. Hans war immer lustig und vergnügt, pfiff und sang während der Arbeit. Nun kam es ihm aber vor, als ob es einen Widerhall gäbe und sein Singen und Pfeifen wiederholt würde. Er sah sich um und erblickte eine große Schlange, die eine goldene Krone auf dem Kopf hatte und um die große Buche geschlungen war. Mit menschlicher Stimme sprach sie zu ihm: "Ich bin der Schlangenkönig. Täglich sehe ich Dich arbeiten und singe mit Dir. Bist ein lustiger und arbeitsamer Junge und hast Dich bei mir beliebt gemacht. Mit Deinem Gesang ist es im Walde lustig. Ich gebe Dir eine gute Belohnung, wenn Du täglich zu dieser Buche kommst und mir etwas vorsingst. Gerne würde ich meinen Untertanen ein lustiges Vergnügen bieten. Brauchst Dich nicht zu fürchten, es wird Dir niemand etwas tun. Beachte nichts, was immer sich auch begeben wird. Heute ist es schon zu spät, aber komme morgen in der Frühe zur Buche, klopfe dreimal an den Stamm, und mein Gesinde wird sich alsbald einfinden": Dem Hans war ganz wirr im Kopf, und er versprach dem Schlangenkönig alles, was er von ihm verlangte.

Schon mehrere Male hatte er davon erzählen gehört, dass unter der großen Buche ein Gang zu einem unterirdischen Schlosse sei, in welchem der Schlangenkönig wohne. Wer das geheime Lösungswort kenne, dem öffne sich die Buche und er steh vor einem goldenen Riegel, der von einem schwarzen Vogel bewacht werde. Wer an den Riegel klopfe, dem werde geöffnet und er gelange in einem geheimen Gang in die Grotte, welche mit tausend Edelsteinen beleuchtet sei. In der Mitte dieser Grotte glänze ein goldener Thron, auf dem der Schlangenkönig ausruhe.

An diesem Tag kehrte der Hans ganz versonnen nach hause zurück. Seine Mutter erkannte bald, dass etwas geschehen war. Hans erzählte, dass er mit dem Schlangenkönig gesprochen habe und morgen wieder auf die Wiese kommen solle, um zu singen. Der Schlangenkönig mit seinem ganzen Gesinde werde sich einfinden, um mit ihm lustig zu sein. "Dafür versprach er mir eine große Belohnung". Seine Mutter riet ihm, er solle dem Wunsche gehorchen.

Nach einer unruhigen Nacht richtete sich der Hans am Morgen her und ging voller Angst zur Buche. Diese war von einem großen, hellen Schein umgeben, der von dem goldenen Sessel kam, auf welchem der Schlangenkönig ausruhte. Um ihn herum lagerten seine Freunde: Schlangen, Eichhörnchen, Vögel, Eulen, Mäuse, Hasen, Rehe, Füchse und Dachse. Die Bewohner des Waldes waren sein Gesinde!

Der Hans ging bis zum Thron, verbeugte sich tief und fing an zu singen. Alle tanzten ringsherum und vergnügten sich über die ganze Wiese. Dann erhob sich der Schlangenkönig und gab ein Zeichen, dass sich alle auf ihren Platz begeben sollten. Für heute war es lustig genug gewesen. Er gab Hans eine Belohnung und lud ihn wieder ein.

Hans kam ganz glücklich nach Hause und zeigte seiner Mutter den Edelstein, den er zur Belohnung bekommen hatte. Diesen verkaufte er in der Stadt dem Goldhändler und bekam viele Goldstücke dafür ausbezahlt. Hans ging über den ganzen Sommer auf die Wiese. Bald war er reich und baute sich ein neues Haus. Er hatte ein angenehmes, bequemes Leben, und die Truhe voller Gold.

Aber sein Reichtum vernebelte ihm den Verstand. Er neidete dem Schlangenkönig alles. Er wollte unter die Erde in das Schloss des Schlangenkönigs gehen, um noch mehr zu gewinnen. Hans ging nicht mehr gern auf die Wiese, um bei dem Schlangenkönig und seinem Gefolge zu singen. Eines Morgens ging er aus dem Haus und nahm die Axt und die Säge mit, um die Buche zu fällen, unter welcher das Schlangenschloss versteckt war. Kaum dass er den ersten Hieb tat und die Säge ansetzte, ertönte ein plötzliches Gedonner, und die ganze Erde erbebte. Die Buche zersplitterte in tausend Stücke, die sich über die ganze Wiese und dem Gang unter der Erde zum Schloss verstreuten. Als sich Hans von dem Schrecken erholt hatte, war alles verschwunden. Von der Buche war nichts mehr übrig, auch sein Reichtum war verschwunden, und es stand wieder das alte, hölzerne Häuschen in Pollom. Es blieb Hans nichts anderes übrig, als wieder als Holzfäller im Wald zu arbeiten und an die schönen Zeiten zu denken.

Aber doch hinterließ der Schlangenkönig ein Andenken: Es sind dies seine Diener, die Schlangen, vor denen die Menschen immer noch Angst haben. Bis heute ist die Wiese, auf der die große Buche stand, als Schlangenwiese bekannt.